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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe
Autoren: Katrin Tempel
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Bibliothek sein würde. Nicht an einem der ersten schönen Frühlingstage, wenn die Studenten sich in Straßencafés und am Ufer des Aasees die Sonne auf die Nase scheinen lassen.
    Mit einem kleinen Seufzer wusch ich meine Hände, kümmerte mich nur wenig um die Erdreste, die sich unter den Fingernägeln angesammelt hatten und für ordentliche Trauerränder sorgten, bürstete meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schwang mich auf mein Fahrrad. Das war der unschlagbare Vorteil von Münster: Fahrradwege, so weit das Auge reichte. Die Strecke von meinem Hexenhäuschen bis zur Uni konnte ich locker in einer halben Stunde fahren. Noch schneller ging es, wenn ich die Abkürzung durch den Wald nahm, die tagsüber romantisch und ruhig war – und nachts unheimlich und dunkel.
    Die Bewegung tat mir gut. Vor dem historischen Seminar sprang ich von meinem Fahrrad, stellte es zu den Hunderten von anderen Rädern und betrat beschwingt die Bibliothek. Hier blieb meine Laune im staubigen Geruch jahrhundertealter Gelehrsamkeit hängen. Doch bevor ich mir selbst auch nur die Chance gab, über eine Rückkehr in meinen Garten oder wenigstens in die Frühlingssonne nachzudenken, machte ich mich an die Arbeit.
    In welchen Büchern hatte ich bisher noch nicht nachgesehen, wo würde ich noch ein paar langweilige Fakten über die Pläne der alten Engländer finden, was hatte ich bisher übersehen, weil ich es für fade Machtpolitik hielt? Eine halbe Stunde später lag ein Stapel von dicken Wälzern vor mir auf dem Tisch. Mit Machtpolitik hatten sich die Historiker offenbar schon seit Jahrhunderten beschäftigt. Ich schlug den ersten Band auf und machte mich an die Arbeit … und versank wie so oft in einer fremden Zeit.
    Reiche Händler und zwei rivalisierende Herrscherhäuser sorgten dafür, dass am Ende niemand mehr wusste, wer eigentlich die Macht hatte. Wahnsinnige und Machtbesessene – viel hatte sich in dieser Hinsicht seit dem 15. Jahrhundert nicht geändert. In meiner Phantasie entstanden dichte Wälder und kleine Städte, in denen die Menschen dieser fremden Zeit lebten und arbeiteten.
    Erst als es allmählich dämmerte, hob ich das erste Mal meinen Kopf, um die kleine Lampe an dem Tisch anzuknipsen. Die meisten Studenten waren längst verschwunden. Klar, es war Freitagnachmittag, viele waren längst auf dem Weg nach Paderborn, Lippstadt oder wie auch immer die Städte der Umgebung hießen, in denen ihre Mütter darauf warteten, endlich wieder Wäsche zu waschen oder Kinder zu bekochen. Mir war das ein Rätsel. Ich liebte meine Eltern aus vollem Herzen. Aber als es darum ging, einen Studienort auszuwählen, war es mir wichtig gewesen, ein paar Hundert Kilometer zwischen mich und meine Eltern zu bringen. Das beschauliche Kaff an der Weinstraße war mir zu klein und zu langweilig – ich wollte mich ordentlich abnabeln und nur zu Weihnachten und in den Semesterferien zu Hause vorbeikommen. Nicht an jedem einzelnen Wochenende, das der Kalender hergab.
    Ich griff nach dem nächsten Buch auf dem Stapel. Keines, auf das ich große Hoffnungen setzte. Im Gegenteil: Dieses Buch hatte ich eher aus Versehen bestellt, denn es war mir entgangen, dass es aus dem 16. Jahrhundert stammte und damit wohl kaum den neuesten Forschungsstand wiedergab. Aber jetzt, wo es schon auf meinem Tisch lag, wollte ich wenigstens kurz hineinsehen, ob sich nicht doch irgendetwas Verwertbares darin fand.
    Ein paar Minuten später rutschte ich auf meiner Stuhlkante hin und her. Ausgerechnet in dieser alten Quelle hatte ein Autor alle Kriege und Konflikte aus der Zeit der Rosenkriege genau aufgezeichnet. In schwer lesbarer alter Schrift – aber sie enthielt genau die Information, die meiner Seminararbeit womöglich doch noch den richtigen wissenschaftlichen Anstrich geben würde. Eine alte Quelle über eine noch ältere Zeit – und es ging ausschließlich um Militärstrategie und den Einsatz von Waffen. Genau das, worauf mein Professor abfahren würde. Und das Buch gab mir die Chance, in meiner Seminararbeit die im Laufe der Jahrhunderte veränderte Einschätzung historischer Begebenheiten zu thematisieren. Das klang so langweilig, dass es einfach gut sein musste.
    Es knisterte im Lautsprecher. »Liebe Benutzer unserer Bibliothek, diese Einrichtung wird in wenigen Minuten geschlossen. Wir bitten Sie, die Leihobjekte zurückzugeben und die Räumlichkeiten zu verlassen.«
    Abgesehen von mir war nur noch ein einziger anderer Student bei der
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