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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe
Autoren: Katrin Tempel
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Familie steht seit Jahrhunderten in einer Art Konkurrenz mit den Hebammen der Reichenau. Ich kenne den Ursprung nicht – aber vielleicht wollte Christine mir damit zeigen, dass sie mehr weiß als ich.«
    »Oder sie will eine alte Fehde beenden?«, schlug ich vor.
    Nachdenklich fuhr Simon sich mit der Hand über die Stirn. »So habe ich es nie gesehen, aber es ist gut möglich. Christine hat keine Kinder, mit ihr wird ein großer Stammbaum von heilkundigen Frauen aussterben. Wenn sie niemanden mehr anlernt, dann nimmt sie ihr Wissen mit ins Grab.«
    »Wo lebt sie? Vielleicht können wir sie einfach fragen?«
    »Ihr Haus liegt auf der anderen Seite der Insel. Du weißt inzwischen, dass das nicht weit ist.« Er lächelte. »Nichts ist weit auf der Reichenau.«
    Wenig später waren wir mit Simons Wagen zu Christine gefahren. Wir klopften an die verwitterte Tür eines kleinen, etwas windschiefen Häuschens. Es lag abseits der Siedlungen, umgeben von Beeten. Die Tür schwang so schnell auf, als hätte die Bewohnerin auf unseren Besuch gewartet. Eine dünne, alte Frau sah uns beide aus tief liegenden dunklen Augen an.
    »Ich habe schon gedacht, ich muss euch persönliche Einladungen schicken«, erklärte sie mit einer erstaunlich kräftigen Stimme. »Konnte ja nicht ahnen, dass ihr so schwer von Begriff seid!«
    Ohne eine weitere Erklärung drehte sie sich um und winkte uns, ihr zu folgen. Zögernd trat ich durch die Haustür, Simon folgte mir auf den Fersen. Der schmale Flur führte in ein überraschend helles Wohnzimmer. Irgendwann hatte jemand die Rückwand herausgenommen und durch eine große Fensterfront ersetzt, die nur von ein paar wenigen tragenden Säulen unterbrochen wurde. Der Blick führte über eine Terrasse mit großen, ausgewaschenen Steinen in einen Garten, der sich sanft in Richtung See senkte. In einem großen Beet warteten Rankgerüste auf Bohnen oder Erbsen, die hier sicher im Sommer wuchsen. Einige große Findlinge verliehen dem Ganzen den Anschein einer verwunschenen Welt.
    »Wollt ihr einen Tee? Auch wenn er nicht aus dem Anbau der Lindes stammt?«, fragte unsere Gastgeberin. »Keine Sorge, ich will euch nicht vergiften.«
    Ich riss mich mit einiger Mühe von dem schönen Anblick ihres Gartens los und drehte mich um. »Ja, gerne.«
    Sie nickte und verschwand in der Küche. Während ich hörte, wie das Wasser im Kessel allmählich anfing zu singen, sah ich mich weiter um. An der Wand standen in massiven Holzregalen Unmengen von Büchern, auf dem obersten Bord fand sich ein Dutzend Mörser, die bestimmt hundert Jahre oder mehr auf dem Buckel hatten.
    »Der wird uns wach machen!«, erklärte Christine. »Zumindest euch, ich kann ohnehin nicht mehr sehr gut schlafen. Alte Leute brauchen kaum noch Schlaf. Liegt wohl daran, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie für immer schlafen dürfen.« Sie deutete auf die Terrasse. »Sollen wir uns nach draußen setzen?«
    Ohne die Antwort abzuwarten, balancierte sie geschickt das Tablett mit den drei Teetassen in der einen Hand und öffnete mit der anderen die Tür. Wir setzten uns auf ein paar alte Holzstühle, und ich sah mit einem Seitenblick, dass Simon vor Anspannung die Lippen aufeinanderpresste. Was war da nur zwischen diesen beiden Familien geschehen?
    Ohne sich von uns auch nur irgendwie antreiben zu lassen, nahm Christine einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse, schloss die Augen und murmelte: »Das tut gut.«
    Dann stellte sie ihre Tasse mit einem Ruck auf den Tisch. »Aber ich denke, ihr seid nicht hergekommen, um meine leckeren Tees zu probieren. Das kann Simon schließlich auch ohne mich. Ihr habt also endlich begriffen, was ich euch mit der Ambrosia im Hortulus sagen wollte.«
    Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich richtig gehört hatte. »Es ist also wirklich Ambrosia gewesen?«
    »Was heißt hier gewesen? Das Kraut müsste inzwischen zwei gute Handspannen hoch sein. Ja, das ist die Ambrosia, nach der ihr sucht. Ich wollte dieses Familiengeheimnis nach über tausend Jahren endlich mit jemandem teilen. Wenn ich es mir recht überlege, dann bin ich mir gar nicht sicher, ob es überhaupt jemals eine gute Idee war, das Wissen um diese Pflanze geheim zu halten. Ihre Wirkung ist vielfältig, und ich kann nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass meine Vorfahrinnen sie immer nur für gute Zwecke eingesetzt haben.« Sie seufzte. »Aber nachdem einige von ihnen auch verbrannt wurden, sollte sich die Sache mit
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