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Höhlenangst

Höhlenangst

Titel: Höhlenangst
Autoren: Christine Lehmann
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gehe zum Toten Ende hinunter«, meldete ich über mein Babyphon nach oben, egal, ob es ankam. Hark hatte mir auf seine sprücheklopfende Art versichert, dass er die Hand immer am Seil haben werde. »Das Seil spricht zu mir. Ich spür das, wenn du dich bewegst. Und wenn sich zehn Minuten nichts tut, dann komm ich runter.«
    Wie tief es hinunterging, weiß ich nicht. Im Gedärm der Erde relativierte sich die Zeit. Aus Spalten quoll Sinter, Wasser tropfte und rann. Dann bog sich der Schlund unters Geschiebe verkanteter Schichten. Das Licht meiner Helmlampe knallte gegen Flächen und verfing sich in Ritzen und Spalten.
    »Julian?« Eigentlich hatte ich rufen wollen, aber mei ne Stimme kam über ein Flüstern kaum hinaus.
    »Hierbinnich!« Ein dünner Schrei aus einem Spalt. Der Schacht hatte sich zu einer Rutsche verbreitert, war aber gerade mal noch einen flachbrüstigen Atemzug hoch.
    »Ich komme!«
    Am blockierten Abseiler drehte ich mich wie eine Spinne mit dem Kopf nach unten. Da, endlich! Im Geschiebe der Schatten ein weißes Gesichtchen mit weit aufgerissenen Augen, zwei weiße Hände am Stein.
    »Nicht bewegen, Julian!« Dass er mir bloß nicht vor der Nase vollends abrutschte in die unzugänglichen Falten des Schlunds! »Warte, bis ich dich habe! Hörst du?«
    Ich zog meinen Handschuh aus und stopfte ihn in den Gurt. Denn krebste ich seitwärts an ihn heran, verankerte die Fußspitzen in den Schrunden und streckte den Arm. »Rühr dich nicht, Julian! Warte, bis ich dich habe!« Die Hand des Jungen war steif und kalt. »Hab dich!«
    Und jetzt? Vierzig Kilo halb gefrorenes Fastfood mit einem Arm hochziehen. Man kann, wenn man muss. Juli an klammerte sich wie ein Affe in meine Gurte. Ich ließ mich rückwärts gegen die Rampe fallen und schlang eine Leine um ihn.
    »Ich habe ihn!«, teilte ich meinem Babyphon mit. »Ihr könnt mich raufziehen!«
    Keine Antwort. Na ja, einen Versuch war es wert gewesen. »Hallo, Julian«, sagte ich. »Ich bin die Lisa. Alles okay?«
    Der Junge nickte mit dem Kopf an meiner Brust. Ich ertastete ein Seil, das ihm noch um die Hüfte geschlungen war, ein blaues Plastikseil der Marke Dachbodengerümpel. Wenn Julian unterkühlt war, durfte er sich nicht bewegen. Als Journalistin liest man ja so allerlei, was man nie im Leben braucht, auch über den so genannten Bergungstod.
    »Deine Mama wartet oben«, plauderte ich, während ich den Jungen in Leinen schlug und an eine Bruststeigklemme hängte und danach die Handsteigklemmen ins Seil einbaute.
    Dabei verlor ich den Handschuh.
    »Wenn du in eine Höhle gehst, nimm nichts mit, lass nichts zurück, mach nichts kaputt und schlag nichts tot«, spülte mir mein spätpubertäres Studium von Harks Höh lenbilderbuch ins Gedächtnis.
    Ich nestelte die Handlampe vom Gurt. Hätte ich nicht noch einmal ins Geschiebe des Toten Endes geleuchtet, dann hätte wohl niemand jemals erfahren, welche Beute die Mägen des Bergs soeben zu verschlucken und zu verdauen im Begriff standen.
    Er pfropfte bis zu den Schultern im Spalt. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn der weiße Helm war mit dem erloschenen Auge der Helmlampe gegen die Schachtschräge gesunken.
    Die Arme lagen über die Schultern geknickt. Der Schlaz, in dem er steckte, leuchtete, wo kein Schlamm ihn verkrustete, orangerot. Auf ihm ringelte sich wie eine satte Mamba nach dem Biss ein schwarzes Seil.
    Vermutlich hatte er Julian das Leben gerettet, denn er hatte verhindert, dass der Junge auf Nimmerwiedersehen ins Tote Ende rutschte.
    Julian wandte den Kopf, und ich schwenkte das Licht schnell weg von der Leiche. Das Nachbild brannte sich durch die Netzhaut ins Gehirn. Trotzdem hätte ich mir Janettes Kamera gewünscht.
    Mein Handschuh war verloren.
    Außerdem wurde es Zeit, das Unmögliche zu versuchen und mit den Steigklemmen klarzukommen. Sie bildeten eine Art Kletterverbund. Man schob die Klemme mit der Hand am Seil empor, samt Fuß, der in einer Schlinge steckte, die mit ihr verbunden war. Nach wenigen Metern glühten mir die Knie, und am Knick war ich völlig außer Atem. Mit Julian im Bauchbeutel kroch ich vor zum Einstiegsschlot. Der Muttermund wollte uns schier nicht durchlassen. Am Perlsinter hatte ich wieder Sprechkontakt mit der Oberwelt.
    »Mama!«, schrie Julian.
    Scheinwerferlicht schrägte über mir in den Schachtmund und warf krautige Schatten an die Wände. Der Sinter blieb zurück, der Stein wurde rauer. Ich ächzte mich bis zur süßen Nachtluft hinauf. Hark streckte
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