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Höhlenangst

Höhlenangst

Titel: Höhlenangst
Autoren: Christine Lehmann
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seine langen Arme herein, packte Julian – »Hab ihn! Mach ihn los!« – und zog ihn raus.
    Dann erlitt ich eine Kurzamnesie. Als ich meine Umwelt wieder wahrnahm, kroch ich unter dem Felsüberhang hervor in eine von Scheinwerfern durchgeisterte Waldnacht. Am Hohlweg stand ein Krankenwagen. Julian lag schon auf der Trage.
    Ich fiel Janette und einem weiteren Sanitäter in die Hände.
    »Und wo ist Hark?«
     

4
     
    »Du übernachtest bei uns, keine Widerrede!«, sagte Janette, als wir ins nächtliche Fachwerk von Trochtelfingen einfuhren. »In deinem Zustand fährst du nicht nach Stuttgart!«
    »Brontë fährt doch!«
    »Wer?«
    Ich deutete auf meinen weißen Porsche vor der dunklen Mauer hinterm Museum.
    »Sei nicht kindisch, Lisa! Allerdings, dort kannst du sie nicht stehen lassen! Am besten, du fährst mir nach.«
    Ich zupfte den Strafzettel unter Brontës Scheibenwischer hervor und legte ihn zu den anderen ins Handschuhfach. Janette hatte Recht. Schon beim Wenden auf dem Parkplatz überforderte Brontës Widerspenstigkeit meine überanstrengten Arme. Die alte Dame besaß keine Servolenkung.
    Janettes Rücklichter leiteten mich durch das Kaff, in dem sechstausend Seelen schliefen. Oder sie sahen fern, vermutlich Tatort . Jedenfalls sah man keine. Bis auf eine. Und die hätte ich fast noch überfahren, weil mir Brontë den Lenker aus den Fingern riss, als ich an der Feuerwehr abbiegen sollte. Im Rückspiegel sah ich Hut und Stock enteilen. Es sah aus wie Bodo der Schreckliche. Oder gab es von der Sorte mehrere?
    Janette bewohnte mit Mann und Tochter eine Doppelhaushälfte in nordwestlicher Hanglage. Sie schlüsselte uns durch einen Windfang mit Gummistiefeln in eine Diele, die unter der Last der Mäntel, Jacken, Schals und Mützen an der Garderobe erstickte. Im Gang zum Klo die offenen Schuhregale zum Ausstinken und ein Herrensportrad. Wischfeste rote Steingutkacheln.
    »Bin wieder da!«, juhute Janette und ließ Harks rote Sporttasche unter der Garderobe fallen. »Hab jemanden mitgebracht!«
    Birkenstocksandalen kamen die Treppe herab, in ihnen graue Socken, darüber ausgebeulte Trainingshosen, dann ein schiefes T-Shirt. Florian war ein Kuschelmann mit Halbglatze. Als Leiter von Motivationsseminaren für Manager war er vermutlich ein Crack, aber so wie er mir die Hand hinstreckte, war er absolut unaufregend. »Hallo, Lisa«, sagte er, Pepp in seine Stimme quetschend. »Freut mich, dich einmal kennen zu lernen.«
    »Dann kannst du dich auch gleich um sie kümmern, Flori«, ordnete Janette an. »Ich muss noch schnell mit der Redaktion telefonieren. In der Mondscheinhöhle steckt eine Leiche.« Damit wandte sie sich die Treppe hinauf und wäre fast über ein Mädchen im unglücklichen Alter zwischen Babyspeck und Nagellack gefallen, das im gepunkteten Schlafanzug auf den Stufen hinterm Geländergitter saß und sich den Finger durch die Nase ins Hirn bohrte.
    »Mein Gott, Laura! Wieso bist du nicht im Bett?«
    »Ist sie schon verfault?«, fragte Laura.
    »Was, die Leiche? Das kann ich dir nicht sagen, Lau ra. Da musst du Lisa fragen. Aber in einer halben Stunde liegst du im Bett!« Damit zwitscherte Janette ab.
    Das Wohnzimmer verlieh der Doppelhaushälfte mithilfe von gerundeten Massivkiefernholzmöbeln eine biodynamische Note. Dass ich Hunger haben könnte, kam dem Familienvater nach der Abendbrotszeit nicht mehr in den Sinn. Als Getränke standen Wein, Bier, naturtrüber Apfelsaft und Mineralwasser zur Auswahl. Als ich um ein Glas Wasser aus dem Wasserhahn bat, stellte Florian seine haushälterische Inkompetenz durch einen ästhetischen Missgriff unter Beweis und brachte es mir in einem ausgedienten Senfglas.
    »Janette hat erzählt, dass du Kletterseminare gibst?«, versuchte ich ihn von dem in meiner Hand zitternden Wasserglas abzulenken, das Laura mit großen Augen verfolgte und mit der Bemerkung quittierte: »Du hast was verschüttet.«
    Florian tappte in die Frauenfalle und machte sich daran, mein Hirn mit langatmigen Schilderungen seiner Konzep te einzuschläfern. Erstaunlich, wie viele Männer noch nicht wissen, dass mit der ansteigenden Zahl der Worte, die sie machen, das erotische Thermometer in den Eiskeller fällt. Aber vielleicht kam es Florian ja genau darauf an.
    »Die Menschen«, behauptete er, »haben ein wachsendes Bedürfnis nach einer natürlichen Bestimmung ihrer Wertewelt. Das methodische Einbeziehen der Natur in ihrer ursprünglichen Form fuhrt die Seminarteilnehmer zu einfachen und
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