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Hoehepunkte der Antike

Titel: Hoehepunkte der Antike
Autoren: Kai Brodersen
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großer Verlust an (
sit venia verbo
) Klasse verbunden war. Das wird man vorsichtig verneinen dürfen. Denn bei der Kompilation scheinen vor allem zahlreiche Juristenkontroversen
     aus den Texten getilgt worden zu sein. Das beweisen einige Doppelüberlieferungen vor allem durch Papyrusfunde, die uns eine
     Konfrontation der meist ausführlicheren Textgestalt des Papyrus mit der Digestenversion gestatten. Des weiteren lässt sich
     vermuten, dass die diversen juristischen Großkommentare weitgehend dasselbe „Material“ enthielten und es insofern von |226| minderer Bedeutung war, aus welchem Kommentar die Kompilatoren die Exzerpte entnahmen – eine Hypothese, die zumindest durch
     die Lektüre moderner juristischer Lehrbücher und Kommentare nur gestützt werden kann. Das schließt allerdings nicht aus, dass
     – wie für Paulus und Ulpian gerade angedeutet – die einzelnen Juristen unterschiedliche Akzente in ihrer jeweiligen Darstellung
     setzten.
    Bei der Schaffung des
Corpus iuris civilis
soll ein gewisser „dramatischer“ Aspekt nicht verschwiegen werden: Nur 18 Jahre nach der Vollendung der Digesten wurde die
     Stadt Berytos, der Sitz der bedeutendsten damaligen Rechtsschule sowie der umfassendsten Bibliothek juristischer Werke, bei
     einem verheerenden Erdbeben vernichtet. Ohne die justinianische Kompilation wären die Juristenschriften und damit das römische
     Recht wohl vollständig und endgültig verloren gegangen. Denn die von den Digesten unabhängige sonstige Überlieferung römischer
     juristischer Texte ist so marginal, dass sich aus ihr kaum ein auch nur einigermaßen den Umfang und geistigen Reichtum der
     römischen Jurisprudenz erschließen lassendes Bild gewinnen ließe. Die einzige Ausnahme bilden die erwähnten Institutionen
     des Gaius, die sich auf einem 1816 in der Stiftsbibliothek zu Verona von Barthold Georg Niebuhr entdeckten, fast vollständigen
     und zu etwa 85 Prozent entzifferbaren Palimpsest erhalten haben.
     
     
    Das Nachwirken des römischen Rechts
     
    Justinian ließ das
Corpus iuris civilis
in lateinischer Sprache von Griechen in griechischem Umfeld verfassen. Der unmittelbare Einfluss der justinianischen Kodifikation
     auf das zeitgenössische Rechtsleben war vermutlich gering. Insbesondere vom Umgang mit den Digesten existieren für das Abendland
     in der Folgezeit nur marginale Spuren; de facto waren sie über 400 Jahre verloren. So betrachtet gleicht es einem – weiteren
     – Wunder, dass es gerade dem
Corpus iuris civilis
vergönnt sein sollte, weltgeschichtliche Bedeutung zu erlangen.
    Denn in Italien existierte eine Digestenhandschrift aus dem 6. Jahrhundert, der
Codex Florentinus
. Von ihr gab es eine Abschrift, die im 11. Jahrhundert in Bologna wiederentdeckt wurde. Dieser Fund leitete eine neue Blüte
     der Rechtswissenschaft ein. An der sich dort gründenden Universität etabliert Irnerius († nach 1125) die Glossatorenschule, |227| die die Texte des
Corpus iuris
wissenschaftlich behandelt und fortlaufend durch Randbemerkungen erläutert. Die Leistungen dieser Schule, deren exegetische
     Qualitäten noch heute – vorausgesetzt, man akzeptiert die schon von Justinians Einführungskonstitutionen aufgestellte Prämisse,
     der Text des
Corpus iuris
enthalte (unabhängig von seiner historischen Tiefenschichtung) ein einheitlich zu betrachtendes und unmittelbar geltendes
     Recht – als unübertroffen gelten können, vereinigt die
Glossa ordinaria
des Accursius. Im 14. Jahrhundert wird das in dieser Form betriebene römische Recht von den so genannten Kommentatoren wie
     Bartolus de Saxoferrato und Baldus de Ubaldis vermehrt den Bedürfnissen der seinerzeitigen, Legitimation durch Autoritäten
     suchenden Praxis dienstbar gemacht. Das
Corpus iuris
und seine Texte werden somit mit unterschiedlichen Akzenten und verschiedenen Methoden im Lauf der Zeit an allen neu entstehenden
     Universitäten Europas gelehrt und bilden überall die Grundlage der Juristenausbildung. Man wird kaum fehlgehen, wenn man diesen
     anhand und im Geiste des
Corpus iuris
erzogenen Studenten vom 14. bis hin ins 19. Jahrhundert das Prädikat des im wahren Sinne des Wortes „europäischen“ Juristen
     verleiht – und das lange Zeit vor der politischen Entwicklung hin zur europäischen Union. Vor diesem Hintergrund muss es geradezu
     als absurd bezeichnet werden, wenn heute ausgerechnet unter dem Stichwort „Bologna-Prozess“ dem Wort nach ein einheitlicher
     europäischer Hochschulraum
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