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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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vom Großen
Krieg erzählt. Wie im Mai 1943 plötzlich an jeder Ecke Kiews Plakate hingen mit
einer Botschaft, die mit Lautsprecherwagen noch bis in die kleinsten Gassen
getragen wurde: »Alle jungen Männer der Jahrgänge 1922 bis 1925 haben sich am
3. Juni 1943 um Punkt neun Uhr am Hauptbahnhof für den Abtransport nach
Deutschland einzufinden.« Sie schrien es so laut, dass keiner es überhören konnte,
und am lautesten schrien sie, dass jeder, der versuche, sich der Anwerbung zu
entziehen, sofort erschossen würde.
    Auch Alexej gehörte zu den aufgerufenen Jahrgängen, auch er wurde
als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschickt. Er kam nach Süddeutschland und
arbeitete in der Landwirtschaft, und damit hatte er noch Glück, denn er bekam
wenigstens ab und zu genug zu essen. Kurz vor Kriegsende verschlug es ihn in
die Alpen, dorthin, wo der sogenannte Führer und andere Nazis ihre Häuser auf
einem Berg hatten. Im Sommer 1945 wurde er nach Hause geschickt – und aus
diesem Jahr stammt auch die Karte, die Mila ihr gab.
    Luba gibt Gas und rauscht über die Dnjepr-Brücke.
    ***
    Alles, was Luba auf der Karte entziffern kann, hat sie gegoogelt,
aber es hat nichts gebracht. Entweder hat Alexej die Namen der Orte falsch
geschrieben, oder Google kommt mit den kyrillischen Zeichen nicht zurecht.
Zweimal hat sie sich schon auf den Weg ins Café Maxim gemacht und ist wieder
umgekehrt, nur um Wiktor nicht um Hilfe bitten zu müssen.
    Ihr Großvater hätte ihr bestimmt helfen können, aber der ist seit Jahren
kaum noch ansprechbar. Die Demenz hat ihn so im Griff, dass er an den meisten
Tagen seine Frau nicht wiedererkennt und sich nicht daran erinnert, wie er
heißt und wo er wohnt. Wahrscheinlich weiß er gar nicht mehr, dass er in
Deutschland war und dort Zwangsarbeit leisten musste wie Alexej.
    Luba erinnert sich, dass sie ihren Großvater vor ein paar Jahren zur
Stiftung für Verständigung und Versöhnung in der Funzestraße begleitet hat, wo
er ein paar tausend Euro als Entschädigung bekam. Vielleicht erfährt sie dort,
wo Alexej in Deutschland gewesen war.
    Ein Bürogebäude aus den Achtzigern an der Ecke Funze- und Tsumluanstraße.
Es hat sich nichts geändert, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Sogar
die Pförtnerin ist genauso unfreundlich wie damals.
    »Erstens gibt es keine Entschädigungen mehr, ist alles abgelaufen,
zweitens suchen wir keine Ortschaften in Deutschland, in denen irgendwer
gearbeitet hat, und drittens, wenn Sie nicht beweisen können, dass Sie mit der
Person, für die Sie recherchieren, verwandt sind, dann können wir sowieso nichts
für Sie tun. Datenschutz, verstehen Sie? Wir sind jetzt ein Rechtsstaat.«
    »Ich möchte ja nur wissen, wo diese Person in Deutschland gearbeitet
hat. Dazu müssen Sie doch Unterlagen haben.«
    »Das ist alles abgewickelt. Erwarten Sie von uns keine Hilfe bei
Ihrer privaten Angelegenheit. Wir werden Ihnen nicht helfen können. –
Mahlzeit, Frau Doktor.« Die Pförtnerin nickt einer Frau zu, die hinter Luba das
Gebäude verlässt. Luba dreht sich um. »Frau Doktor« ist um die fünfzig, elegant
gekleidet, tadellose Figur, das Haar sehr kurz geschnitten, grau mit breiten
schwarzen Strähnen dazwischen. Kaum hat sie das Gebäude verlassen, zündet sie
sich eine Zigarette an.
    »Guten Tag.« Die Frau an der Pforte klappt ihr Fensterchen zu.
    Luba geht hinaus in den kleinen Park hinter dem Gebäude der
Stiftung. Auf einer Bank sitzend, sieht sie die Frau mit dem zweifarbigen Haar
wieder. Luba nickt ihr zu.
    »Was wollten Sie denn von unserer Stiftung?« Eine Stimme wie Janis
Joplin. »Unsere Pförtnerinnen sind spitze, wenn es ums Abwimmeln geht. Und
seitdem klar ist, dass die Stiftung demnächst dichtmacht, hat überhaupt niemand
mehr Lust, irgendwem zu helfen. Viele von uns wissen nicht, wie es danach
weitergehen wird. Das heißt Marktwirtschaft, und wir werden schon noch lernen,
wie sie funktioniert. Ich verspreche mir ehrlich gesagt nicht sehr viel davon.«
    »Die Frau an der Pforte nannte Sie ›Frau Doktor‹.«
    »Ach so, ja. Ich bin promoviert, Historikerin.«
    »Was ist Ihr Fachgebiet, also das, womit Sie sich am besten
auskennen?«
    »Vor 2001 hieß mein Fachgebiet ›Großer Vaterländischer Krieg‹. Wieso
wollen Sie das wissen?«
    »Können Sie auch Deutsch, waren Sie selbst schon in Deutschland?«
    »Kindchen, was Sie alles wissen wollen. Wozu, wenn ich Sie noch
einmal fragen darf. Die Entschädigungszahlungen sind tatsächlich
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