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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
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ein, und etwas später wurden die Grenzen gezogen, und wir galten als Russenland …
    Was sollte Ferda ihm entgegnen? Nichts. Ein Zufall, das wußte er von Aneschka, hatte den Großvater eine Frau heiraten lassen,
     die bald zur Direktorin des Hygieneinstituts in Prag aufstieg, ein anderer Zufall brachte sie dazu, zerstoßenen Fliegenpilz
     in geringen Mengen zu verzehren, und vielleicht deshalb rief er gelegentlich aus, das Blatt wäre voll. Nun aber Gretá, sie
     zeigte, von den vielen Gläsern georgischen Kognaks und Wermuts angepeitscht, ihnen allen die georgische Betrunkenheit vor:
     Man lacht, man springt von seinem Platz auf, man schreit, und man strengt sich übermäßig an, um nicht als erster sich ins
     Fleisch zu schneiden.
    Schöne nüchterne und schöne besessene Menschen, dachte Ferda, ich muß zurück in mein Land, und er sagte zu Aneschka: Wir könnten
     doch morgen nach Berlin reisen … Ihre Finger schmerzten, weil sie dicke Saiten auf ihre Gitarre aufgezogen hatte, in Gegenwart
     ihres Geliebten kostete es sie einigeMühe, um nicht in Schweigen zu verfallen, und sie fragte ihn also aus nach seinen Krakauer Tagen, nach der Besonderheit des
     Tataren aus dem Grenzland, nach der Eiseskälte, nach loscypek, dem geräucherten Schafskäse, nach den Schokoladenlebkuchen,
     die an gelben Geschenkbändern von den Armen des Kronleuchters herunterhingen, in den Restaurants für die besseren Touristen
     und die besseren Polen – er hob an zu einer großen Geschichte, brach aber mittendrin ab, und bevor er sie bitten konnte, mit
     ihm nach Berlin zu fahren, fing der Großvater an, ein Lied zu summen, ein Lied, das er zuletzt vor fünfundsechzig Jahren gesungen
     hatte: Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab. Und weiche keinen Finger breit den Gottes Wegen ab …
    Die falsche Grammatik der alten Zeit, das warme Gefühl der Frommen, vorher. Gesänge im Lokal der Georgierin, jetzt. An den
     Fenstern der Häuser in der Kastanienallee hingen Gestecke aus Birkenästen, Kiefern- und Fichtenzapfen, aus Ligusterbeeren,
     rote Organzabänder waren um die Mooskränze gewickelt, ein glänzendes Gesicht sah man manchmal neben dem Kranz am Fenster,
     das Gesicht einer Frau, die vor Schreck ins Dunkel des Zimmers zurückwich, das Gesicht eines Mannes, der seine Bügelarbeit
     beendet hatte und scheu und müde am Fensterbrett stand. Und es rieben sich die kahlen Äste aneinander, und das Licht des Mondes
     konnte zu Buchstaben eines Namens vertropfen. Aneschka sagte: Übermorgen in Berlin, Limonade, Erdnüsse im Zug, Hausmannskost
     am Abend …
    Ihr Glanz.
    – Ende –

    (Dies ist nicht das Ende. Die Dame Vlasta hat die Köpfe, die der höfliche Herr Tatar ihr verehrte, mit dem Gesicht zum Wald
     in ihrem wilden Garten aufgestellt. Das Moosweibchen mag keine Nasenlosen, deshalb beklebt sie, rasend vor Zorn, die Mitte
     eines jeden Gesichts mit einem Knollen aus Moosfäden. Ismael Sobolewski erfährt es, weil die Dame Vlasta ihm diese Begebenheit
     und andere Geschehnisse in einem langen Brief mitteilt. Ihr Brief endet mit den Worten: Die Seelenschwärze ist die Tinte der
     Nacht, lieber Herr, Sie werden verstehen … Er verstand, und sein Kummer verging für eine ganze Stunde.)

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    Informationen zum Autor (Klappentext)
    Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit 35 Jahren in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel, wo er seither als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist arbeitet. Er war Kolumnist für das ZEITmagazin und schreibt für Die Welt , die Frankfurter Rundschau , DIE ZEIT und die FAZ . 2002 erhielt er den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2004 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Im Jahr 2005 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Im selben Jahr erhielt er den Hugo-Ball-Preis, 2007 den Grimmelshausen-Preis und 2008 den Corine-Preis für seinen letzten Roman »Liebesbrand«.

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    Lieferbare Titel / Lesetipps
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    »Seit Arno Schmidt hat wohl keiner mehr ein so produktives Schindluder mit der Sprache getrieben, ihren Acker so
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