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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Unbekannten sofort
     unter Druck. Sie spielten ihr Spiel mit mir, sie hatten sich den Nachdruck eines Posener Stadtplans aus dem Jahre neunzehnhundertsiebzehn
     besorgt und die deutschen Namen eingeprägt, und jeden verdammten Tag brüllten sie mir von weitem die Namen entgegen. Ich kenne
     sie auswendig: Eisenbahndirektion. Oberpostdirektion. Ansiedelungskommission. Ostbank für Handel und Gewerbe. Mittelschule
     für Mädchen. Mittelschule für Knaben. Artilleriedepot. Haus des Posener Feldartillerieregiments. Kaserne des Grenadierregiments
     Nummer sechs. Kaserne des Jägerregiments zu Pferde. Die Polen heute, die Posener heute, interessieren sich nicht für die Fremdvölkischen,
     sie glaubten alle, ich litte an der Heimwehkrankheit. Ich litt aber an der Hitze im Zimmer, es wurde die ganze Nacht geheizt,
     man konnte an der Temperaturspindel drehen, es nutzte nichts. Draußen im Hof fünf kopflose Rostkörper, jeden Morgen fiel mein
     Blick auf sie, und an einem Morgen kehrte ich zurück in die überheizte Kammer, packte meine Siebensachen und floh nach Warschau.
     War ein Streuner, geriet an Streuner, für mich gab es keine richtige Arbeit und keine richtige Zukunft in der Hauptstadt.
     Dort habe ich Jacek kennengelernt, als ein Nichts und ein Habenichts hat er sich mir vorgestellt, er folgtedem Ruf eines Freundes, des Trolls. Die Verachtung. Sie verachten jeden und alles, und sie wollen es mir beibringen: wie
     man auf wertvolle Ware achtet und wie man den Besitzer der Ware verachtet. Sie sind nicht schlechter als ich. In Deutschland
     habe ich zuletzt Steinschleudern auf dem Weihnachtsmarkt verkauft. Und Holzschwerter. Also habe ich mich gebessert. Mir gefällt
     der Triumph der Bürger, wenn sie beschädigte Möbel in ihre Wohnung stellen, ich verkaufe ihnen Möbel und kleine Gegenstände,
     deren Anblick fast jeden von uns wehmütig stimmt. Das bin ich, soviel zu mir, ich hoffe, es reicht …
    Natürlich, sagte Ferda im Wissen, daß der andere ihn auch hätte schroff abweisen können, als er ihm den Grund seiner Herfahrt
     genannt hatte – Aneschka würde zufrieden mit ihm sein, Aneschka, die jetzt vielleicht dicke Saiten auf der Gitarre spannte
     oder sich vorstellte, wie er eine polnische Krippe aus buntem Stanniol in einen Schuhkarton einpacken ließ. Er konnte es nicht
     für sich behalten und verriet es ihr am Telefon, vorhin, auf dem Weg hierher, zu der fast nur von Frauen umstellten Säule
     im Garten der Nikolauskirche – was taten sie? Besprachen sie den Stein, einen Turm mit einem Stumpfkegeldach? Die Dame Wislawa,
     die Dame Vlasta, die Dame Olivia: Sie baten etwas herbei, sie wünschten etwas hinauf, ihre Lippen bewegten sich in einer stummen
     Litanei.
    Ein Gesteck aus Tannenzweigen und Grablichter lagen auf der steinernen Bruchplatte zu Füßen der Säule, und er wollte schon
     herantreten, als ein Zug über die Bahntrasse auf der kleinen Brücke zur Rechten fuhr, keine der Frauen schreckte auf oder
     beendete die stumme Anrufung, nur er war seltsamerweise plötzlich beunruhigt, und er beschloß, den Kopf nicht zum Himmel zu
     heben, er schaute zwischen den Gitterstäben hindurch geradeaus in die Radziwillowskastraße. Es näherte sich, langsam und ohne
     Eile, der kummervolle Ismael Sobolewski, er kaufte erst Kaugummi für frischen Atem amKiosk gegenüber, dann überquerte er die Straße, schob das schmiedeeiserne Gittertor weiter auf, nickte dem Deutschen zu und
     stellte sich neben die versunkenen Frauen.
    Man hatte dem moslemischen Tataren ›freigegeben‹, aus Rücksicht vor seinem Glauben, und tatsächlich war er zunächst froh darüber
     gewesen, es reizte ihn immer zum Lachen, wenn er an einem Heiligengrab stehen mußte, und da aber kam ihm am Florianstor, dem
     einzigen nicht abgerissenen Stadttor, der folgende Gedanke: Wie kann ich die schöne strenge Witwe derart enttäuschen? Sie
     überrascht zwar ihre Gäste damit, daß sie zweimal in fünf Minuten über ihre schwarze Seidenbluse wischt, obwohl ich keine
     Minzplätzchenkrümel oder Schuppen oder tote Ameisen entdecken konnte; die Auftragsarbeit ist von sonderbarer Art, Halbreliefs
     soll ich schnitzen, eine gerade Fläche des groben Klotzes soll der Hinterkopf sein, und die letzte Handübung will sie übernehmen,
     sie wird die Köpfe an gerahmte Holzplatten kleben … Ismael hatte also lange über die Witwe Wislawa nachdenken müssen und war
     zu dem Schluß gelangt, daß er sich der Trauerprozession anschließen wollte,
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