Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
Reittier
     aufzusatteln, er rüttelte am Arm des Fremden, und sie wandten sich zur Häuserzeile zwischen dem Marienplatz und der Grodzka-Straße,
     und tatsächlich stand wie verabredet vor dem Haus Nummer acht, dem Haus der streitenden Eidechsen, die Dame Vlasta.
    Sie zeigte nicht ihre Verwunderung über den Fremdenführer an Ferdas Seite, der Tatar küßte nicht ganz formvollendetihre Hand, er machte mit geradem Rücken einen Hofknicks, und dann sagte er: Dieser Mann ist ortsfremd, ich habe ihn hergeführt,
     ich habe keine schlechten Absichten. Ich schnitze Engel mit Hammer und Beitel, die Raspel benutze ich, um die Kanten abzurunden,
     und manchmal benutze ich auch grobes Schleifpapier. Die Dame Vlasta sagte: Er ist der braunäugige deutsche Freund einer schön
     verträumten Tschechin … (Sie sprechen, als müßten sie einen Abstand wahren, als würden sie einander von den entgegengesetzten
     Rändern eines Spielplatzes zurufen, daß sie über die Bekanntschaft erfreut sind. Sie sind es tatsächlich. Denn es zeugt zuweilen
     von Freundlichkeit, wenn man die Hand des Fremden nicht mit der Hand berührt. Kann man das Nachtdunkel verwedeln? Kann man
     im Abenddämmer verlegen werden? Der Kummervolle läuft wieder einmal rot an. Die Dame erinnert sich, daß man unter den Kommunisten
     in den Krämerläden nur Salz Essig Senf kaufen konnte – für Milch und Butter mußte sie zwei Tage anstehen. Sie verbietet sich
     sofort die verbotene Sehnsucht nach diesen Zeiten. Ihre Hand fährt auf und ab wie ein Fächer, und die Männer glauben, sie
     würde sich wegen einer Hitzewallung Luft zufächeln.)
    Und die Männer folgten der Dame, die sich mit Blicken über die Schulter vergewisserte, daß sie unterwegs auch nicht verschluckt
     wurden von den Scharen in den Straßen und auf den Plätzen, und als sie vor einem Haus in der Kanoniczagasse stehenblieb und
     die Neuankömmlinge ermahnte, der Witwe Minzplätzchen bloß nicht auszuschlagen, starrte der Bekümmerte auf das Stück Festungsmauer
     der Wawelsburg am Ende der Gasse: Auf buntem Papier hätte er gleich dies Bild festgehalten, wenn er ein Maler gewesen wäre,
     ihm schien, als müßte er wieder ein Rätsel lösen, das Rätsel vom Nebel, der den Stein fast verhüllt. Er atmete, wie er immer
     atmete. Er verbat sich jedes unnötige Wort.
    Die Witwe Wislawa hieß ihn willkommen. Sie hieß auchden Deutschen willkommen. Sie schlüpften aus ihren Straßenschuhen, sie tranken ihren Tee, sie aßen ihre Minzplätzchen, die
     lange am Gaumen klebten. Der Tatar war zunächst nur ein Beisitzer, und er verfolgte die Bewegungen des Deutschen, der versuchte,
     eine komplizierte Situation zu erklären. Man hatte ihn veranlaßt, herzureisen, um die Dame Vlasta freizukämpfen, das ergab
     für Ismael zunächst einmal keinen Sinn. Denn die Dame lächelte gelegentlich, und wahrscheinlich hatte sie sich neue Zähne
     machen lassen, sie kniff in ihre Vorderzähne immer dann, wenn sie sich unbeobachtet wähnte.
    Da sprach die Witwe zu ihm: Meine Freundin hat mir ins Ohr getuschelt, daß Sie ein Holzschnitzer sind. Können Sie auch Köpfe
     schnitzen? … Köpfe, dachte Ismael Sobolewski, Köpfe … Wenn ich Ihnen Klötze und Werkzeug besorge, und natürlich auch wasserfeste
     Farben, würden Sie sich zutrauen, nach Originalmodellen zu arbeiten? … Ein Kopf, dachte der Tatar, ein Kopf ist ein Rund,
     in das man eine Scheibe hineinpaßt, vorne, nein falsch, man muß, ich muß den Klotz abrunden und in die Vorderseite die bekannten
     Organe hineinschnitzen, und vielleicht sollte ich von großen geweiteten Augen absehen … Weilen Sie noch unter uns, sagte die
     Witwe mit erhobener Stimme, oder sind Sie eingeschlafen? … Ich lausche Ihnen, sagte Ismael, ich bin nur etwas aufgeregt, es
     ist eine große Herausforderung, ich arbeite zwar schnell und gründlich, aber es wird einige Tage dauern, bis ich fertig bin.
     Wie groß sollen die Köpfe sein?
    Und sie ballte die Hände zu Fäusten, sie streckte die Zeigefinger, der eine Finger ruhte auf ihrem Rock, den anderen Finger
     hielt sie in Brusthöhe, sie gab ihm auf diese Weise das Maß vor, eine Handspanne und der Abstand zwischen den beiden gespreizten
     äußeren Fingern, der Bekümmerte nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und er vernahm, daß man ihm für die Dauer seiner
     Arbeit eine Unterkunft stellen wollte, drei Mahlzeiten am Tag wurden ihm versprochen, ermüßte allerdings mit der Schlafstätte im Flur vorliebnehmen, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher