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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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kommen wir nie an«, flüsterte Bossie.
    Ich deutete auf die summende Lampe über unserem Kopf. Alle Lampen brannten mit halber Kraft, auch die weiter hinten im Gang. Ich verstand, dass in den Zimmern Menschen lagen, die nicht viel Licht vertrugen.
    »Gleich fragen sie uns, was wir hier tun«, sagte Bossie. »Geht weiter.«
    Er schlug vor, dass er die Zimmernummern laut vorlesen und uns das Schritttempo vorgeben würde. Wir müssten einen entschlossenen Eindruck machen.
    »Gut«, sagte Geesje.
    So liefen wir weiter.
    »Dreihundertdrei«, sagte Bossie.
    Ich hörte die Klingel des Aufzugs hinter uns.
    Pling .
    Ich lief langsamer, als müsste ich mich gegen plötzlichen Wind stemmen, und wagte nicht, mich umzuschauen.
    Vielleicht hatte die Frau mit dem Betonbusen im ersten Stock es sich anders überlegt. Vielleicht hatte sie eine neue Nachricht bekommen: Die Kinder, auf die Sie aufpassen sollten, sind entkommen. Sie würde uns packen. Wahrscheinlich würde sie uns alle drei unter nur einen Arm klemmen und nach unten schleppen. Zur Strafe würden wir keine Limonade bekommen.
    »Dreihundertvier.«
    Wenn ich nur an ihre harte Hand dachte, bekam ich einen blauen Hintern.
    »Dreihundertfünf«, sagte Bossie.
    Ich wollte mich ablenken und schaute in das Zimmer dreihundertfünf. Da saßen sich zwei kleine alte Männer gegenüber. Zwischen ihnen stand ihr Essen, aber sie rührten es nicht an.
    Im Zimmer 306 sah ich eine große Frau in einem Rollstuhl. Sie hielt den Körper so steif wie ein Brett, aber der Rest hing herunter: Ihr Mund stand offen, die Zunge hing heraus, ihr Kopf war nach hinten gesunken.
    Es gab auch ein Zimmer mit einem Bett, in dem jemand mit Gurten festgebunden war, und in 308 waren die Rollläden heruntergelassen, und jemand saß da und redete mit sich selbst.
    Ich sagte: »Ich bekomme keine Luft.«
    »Lass den Topf los«, sagte Geesje. »Dann kannst du atmen.«
    Sie warteten beide, bis ich ein paarmal tief ein- und ausgeatmet hatte.
    Geesje nickte. »Ich bin gestern auch erschrocken«, sagte sie.
    Bossie machte eine Kopfbewegung zum Gang vor uns.
    »Wird es noch schlimmer?«
    »Nein«, sagte Geesje. »Aber ich kann auch nicht sagen, dass es weniger schlimm wird.«
    Ich hielt mich am Topf fest. Ich legte die Hände dicht neben Bossies Hände und kniff die Augen zu.
    Geesje grinste. »Was hast du vor ein paar Tagen gesagt?«, sagte sie zu mir. »Dass du keinen Achtzigjährigen kennst?«
    Mir schlugen keimfreie Gerüche entgegen: Seife und Parfüm und Salbe, die mit Pfefferminz vermischt war. Es gab aber auch Gerüche, die sauer geworden waren vom langen Liegen: Schweiß, altes Blut, alte Pisse.
    »Weitergehen«, sagte Geesje. »Wir sind fast da.«
    »Dreihundertsechzehn«, sagte Bossie.
    Ich spähte unter den Wimpern hindurch. In einer breiten Türöffnung stand ein dünner Mann in einem gestreiften Schlafanzug. Auf einem Stuhl saß ein junger Besucher traurig neben einer alten Frau, die offenbar schon seit vielen Jahren schlief.
    In 319 sah ich eine arg verschrumpelte Frau. Sie war so krumm, dass sie mit dem Kinn die Tischplatte berührte. Sie aß Kartoffelbrei mit Spinat, und gerade als wir an ihrer Tür vorbeigingen, schob sie sich den Löffel durch den Hals bis zur Rückseite. Das tat sie natürlich nicht wirklich, aber es sah so aus.
    »Hier ist es«, sagte Geesje eine Sekunde später.
    Wir standen vor der offenen Tür von 320 und ließen die Pflanze zwischen uns zu Boden sinken. Das Seltsame war, dass wir es uns alle drei zugleich überlegten und wortlos die Pflanze wieder hochhoben. Im Zimmer versteckte sich das Licht unter den Betten, als wir hinschauten. Das bisschen Licht, das uns noch blieb, kam von dem gebohnerten Fußboden und den Wänden, und es roch nach etwas, was ich nicht benennen konnte.
    Bossie sagte: »Hier stinkt es nach Motoröl.«
    »Motoröl?«, sagte ich.
    »Ja, Motoröl.«
    Wir traten näher zur Tür, wagten aber nicht hineinzugehen. Unsere Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
    Plötzlich sahen wir eine Gestalt neben dem Bett stehen.
    Geesje nahm die Hand von der Brust und deutete auf Nancy Sinatra.
    Sie sagte: »Schaut doch.«
    Aus unseren Kehlen kam ein Geräusch.
    Nancy war klein und bucklig, so wie wir sie kannten, und sie stützte sich auf ein Gehgestell. Das Gehgestell hatten wir noch nie bei ihr gesehen. Sonst war alles unverändert. Ihre Haare waren nicht gekämmt. Sie hatte Stiefel an, wie üblich. Es waren nicht die Stiefel, die sie auf der Straße trug,

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