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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sondern plumpe braune. Mit denen würde sie nicht bis Nowosibirsk kommen. Sie sahen witzig aus unter ihrem Nachthemd.
    Alle drei hätten wir am liebsten die Vorhänge aufgerissen. Uns wurde kalt von der Dunkelheit im Zimmer.
    »Guten Tag«, sagte Bossie.
    »Guten Tag, Nancy«, sagte Geesje.
    Es war seltsam, Geesje laut »Nancy« sagen zu hören. Es war auch seltsam, plötzlich zu begreifen, dass wir nach all der Zeit nicht wussten, wie Nancy wirklich hieß.
    Sie antwortete nicht. Ich würde auch nicht antworten, wenn man mich mit einem Namen ansprechen würde, der nicht meiner ist.
    Sie verschob das Gehgestell, bewegte die Füße seitwärts und wiederholte das ein paarmal, bis sie sich zu uns umgedreht hatte. Sie brauchte viel Zeit dafür.
    Wir blieben zögernd draußen im Gang stehen, hielten die Pflanze mit sechs Händen fest und warteten auf den Moment, in dem Nancy im Licht erscheinen würde.
    Plötzlich sagte Geesje: »Oh.«
    Bossie sagte: »Nein.«
    Und ich sagte: »Mannomann.«
    Das kam der Wahrheit am nächsten.
    Die Person im Zimmer kam langsam von der Stelle, beugte sich vor, zum Licht aus dem Gang, und jagte uns einen Schrecken ein. Der Mann beugte sich auf seinem Gehgestell vor und ließ uns nicht aus den Augen. Er zog eine Grimasse, kaute auf seiner Zunge, kratzte sich einen tagealten Bart.
    »Komm«, sagte ich.
    Langsam, aber wirklich sehr langsam, wichen wir zurück, den Topf mit der Pflanze zwischen uns. Wir verschwanden darunter und dahinter.
    Bossie sagte entschlossen: »Los, gehen wir.« Er übernahm die Pflanze mit einer drehenden Bewegung des Körpers von Geesje und mir. Wir wehrten uns nicht. Wir drehten uns mit ihm um und liefen Richtung Aufzug und schauten uns noch einmal um, genau wie er.
    In der Tür von Zimmer 320 stand der Mann und schaute uns nach. Abgesehen von den Stiefeln war er Nancy in nichts, aber auch in gar nichts ähnlich.
    Als die Tür des vollen Aufzugs zuging, machte eine Frau zum Spaß: »Pling!«
    Der ganze Aufzug lachte. Wir wurden angestoßen, dass wir mitlachen sollten, aber wir taten es nicht.

BLIND
    Bossie und ich hatten nicht ausgemacht, dass wir Geesje wegen ihres schielenden Auges ärgern wollten, es passierte ganz von selbst.
    Wir fingen zufällig an, als sie beim Einsteigen die Stufe vom Bus verfehlte und mit dem Gesicht gegen die Tür fiel.
    Ich sagte: »Pass auf, Geesje«, und Bossie sagte: »Geesje braucht eine Brille«, und danach hörten wir nicht auf mit unseren Witzen.
    Geesje hatte, abgesehen vom Schielen, keine schlechten Augen.
    Wir taten weiter, als würde sie schlecht sehen – und wir auch. Wir nannten sie Herr Sinatra. Wir nannten sie Junge, ach nein, Mädchen. Wir nannten sie Gijsje, ach nein, Geesje. Wir fragten sie: »Mein Herr, haben Sie ein Mädchen mit kurzen Haaren gesehen, ein bisschen rot?« Wir taten, als würden wir sie nirgends entdecken, während sie vor uns saß. Wir erschraken und sagten: »Geesje, hast du dir den Bart abrasiert?« Und dann lachten wir uns schief und krumm.
    »Babys«, antwortete Geesje.
    »Wir sollen Babys sein?«, sagte Bossie. »Da sieht man ja, dass du nicht gut siehst.«
    Aus einem Fehler kann man endlos viele machen. Fehler gibt es jede Menge. Man kann gute Augen haben, die nicht gut gucken, und man kann schlechte Augen haben, die nicht gut sehen.
    Wir machten immer weiter. Wir fragten, ob Geesje einmal Blindschleichen gegessen hatte oder ob sie dafür zu kurzsichtig war oder ob sie vor Hunger schielte. Und ob sie den Zeitungsbericht von einem Mann kannte, der im Krieg durch eine Granate blind geworden war, jetzt aber mit seiner Zunge sehen konnte?
    Unsere Witze waren blöd, unsere Bemerkungen lahm und manchmal wirklich gemein, aber wir hielten uns den Bauch vor Lachen und fassten uns zwischen die Beine, weil wir sonst in die Hose gemacht hätten.
    Die ganze Zeit schaute Geesje aus dem Fenster und tat, als würde sie uns nicht hören.
    Wir sahen auch nicht, dass ihre Augen glänzten. Wir fuhren durch lange Alleen, vorbei an Häusern, die siamesische Zwillinge waren, und auf dem ganzen Weg sagte sie kein Wort.
    Doch genau darauf warteten wir. Wir bettelten fast darum.
    Wir hielten an einer Haltestelle in einer Straße, die wir nicht kannten. Es war eine Straße mit großen, gleich aussehenden Reihenhäusern auf beiden Seiten.
    Ich sagte: »Oh, schaut doch, ich sehe doppelt.«
    Und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    Gerade bevor die Bustüren zischend zugingen, sprang Geesje auf und schoss
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