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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Autoren: Alexa von Heyden
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Fisch oder Reis mit Huhn. Nach dem Essen wandern Magnus und ich im Dunkeln am Strand entlang und staunen über die Sterne am Himmel. In Berlin ist der Himmel wegen der vielen Lichter nachts orange-grau, hier ist er blau-schwarz und es leuchten so viele Sterne über unseren Köpfen, dass man nicht weiß, wo man hingucken soll. Und erst die Sternschnuppen! Zurück an der Hütte dauert es normalerweise nicht lange, bis sich die Tür unserer Nachbarn öffnet und Valentin und Anton mit einem kalten Bier zu uns rüberkommen. Um elf Uhr abends sind alle Inselbewohner im Bett und schlafen so tief, wie sie das zu Hause nie tun.
    Ich liege in einer rosa-blau gestreiften Hängematte, die im Schatten zweier Palmen hängt, schaue raus aufs Meer und frage mich, ob es die Asche meines Vaters wohl von der Nordsee bis in den indischen Ozean geschafft hat. Ich stelle mir vor, dass seine Überreste nicht grau oder schwarz, sondern grün sind und dass dort an den Stellen, wo das Wasser glitzert, gerade mein Vater vorbeischwimmt. Die Bewegung der Wellen macht mich müde und ich nicke ein.
    Als ich nach einer Weile wieder die Augen aufschlage, fühlt sich etwas in mir anders an. Das Gefühl, das ich habe, ist einfach zu beschreiben: Es ist okay. Es ist okay, dass mein Vater und ich nie mehr zusammen sein werden, egal, wie sehr ich es mir wünsche und deshalb jeden Tag surfen gehe. Ich glaube nicht an den Himmel als einen Raum, in dem meine toten Verwandten in weißen Gewändern umherflattern, in dem man sich wiedertrifft und den Rest der Ewigkeit gemeinsam Harfe zupft. Aber ich glaube an die Seele. Ich glaube, dass die Seele eines Menschen die Gesamtheit der Erinnerungen an ihn ist und die Liebe, die seine Freunde und Familie empfinden, selbst wenn er nicht mehr da ist. Das ist eine Form von Energie. Als ich mit Caro die Dias angeschaut habe, war da etwas Gutes im Raum – es war die Liebe zweier Töchter für ihren Vater. Man hört ja nicht auf, jemanden zu lieben, nur weil er tot ist. So eine einseitige Liebe kann unheimlich wehtun, deshalb war ich als Teenager so wütend. Es war wie permanenter Liebeskummer. Ein anderes Wort für Liebeskummer ist »Seelenschutt« und das trifft genau, wie es in meinem Inneren aussieht. Denn die Wahrheit ist: Ich liebe meinen Vater und vermisse ihn jeden Tag. Ich wünschte, ich wäre damals nicht so klein gewesen und hätte ihn von seiner Tat abhalten können. Ich wünschte, diese Schuldgefühle gingen irgendwann weg. Ich wünschte, ich könnte die Erinnerungen meiner Mutter an diesen Tag auslöschen. Und ich wünschte, meine Geschwister und ihre Kinder hätten ihn erlebt, als Vater und als Großvater. Er fehlt.
    Als ich bei meiner Mutter zu Hause die Unterlagen meines Vaters durchlas, hatte ich plötzlich Sorge, dass ich die Krankheit von ihm geerbt haben könnte und sie eines Tages auch bei mir ausbrechen würde. Aber ich bin nicht depressiv, denn ich kann nicht nachvollziehen, warum man vor seiner Zeit sterben will. Wir müssen alle sterben. Vielleicht hat sich mein Vater gar nicht gewünscht zu sterben, sondern wollte nur, dass sich etwas ändert. Dass der Stress aufhört und er nicht mehr für so viel verantwortlich ist. In dem Punkt könnte ich ihn verstehen. Mit Mitte zwanzig spüre ich, wie der Druck steigt. Ich bin mit der Uni fertig und muss einen Job finden. Alle erwarten, dass ich funktioniere, etwas erreiche und Steuern zahle, nebenbei soll ich zwei bis drei Kinder auf die Welt bringen. Ich kann nicht meine Sachen packen, an einen Strand ziehen, Armbänder knüpfen und aufs Meer gucken. Klar, gehen würde das schon, aber man würde mich für verrückt halten.
    Mein Vater hat mit Ende dreißig die Frage, ob sich das Leben lohnt, mit »Nein« beantwortet – trotz Familie. Aber war es wirklich so einfach? Sich zu Depressionen zu bekennen, war in den Achtzigerjahren wie ein Coming-out. Meine Mutter erzählte, dass mein Vater Angst hatte, wegen seiner Suizidgedanken in die »Geschlossene« zu müssen. Er lehnte Tabletten ab, weil er befürchtete, als Arzt Probleme mit seiner Haftpflichtversicherung zu bekommen. Er hatte Angst, aus dem System zu fliegen, wenn er sich zu seiner Krankheit bekannte – zu Recht. Es tut mir so leid um ihn.
    Ich spüre mit einem Mal eine Ruhe in mir, nach der ich mich in den letzten Wochen, in denen ich die Vergangenheit wieder aufleben ließ, gesehnt habe. Ein Schreiben aus den Unterlagen fehlt allerdings noch – der Brief des Psychologen, bei dem mein Vater die
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