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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition)
Autoren: Maurizio Maggiani
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frei gehalten wird; es liegt dort gut sichtbar, damit uns nicht die große Gelegenheit entgeht, die uns gegeben wurde, aber es wurde noch nicht aufgeschlagen, und jetzt ist es auch gut, dass es noch eine Weile geschlossen daliegt. Ich habe gesehen, was es ist, und im Unterschied zu Nita habe ich dieses Buch schon gelesen.
    Tatsächlich ist es nur ein Roman, und wenn er etwas Wertvolles enthält, dann deshalb, weil sich der sozialistische Schriftsteller einer ersten, vom Autor signierten Ausgabe entledigt hat. Ich kenne dieses Buch, sagte ich, und ich glaube zu verstehen, was Oscar Wilde meinte, als er seinen Freund, den Kaffeehauskellner, über die verborgene Wahrheit, die ihn erleuchtet hatte, informierte. Es ist eine schreckliche und vielleicht prophetische Geschichte, vom König der Karibikinsel Redonda geschrieben; der König schrieb sie in englischer Sprache, und der Roman, den ich zu meiner College-Zeit las, heißt
The Purple Cloud
. Es geht um das Ende der Menschheit durch ein mächtiges, von einer purpurroten Wolke auf der Erde verbreitetes Gift; es geht um einen Mann, der es unverdienterweise überlebt und beginnt, durch die Welt zu streifen, die jeden Lebens entleert ist. Es geht darum, wie dieser Mann sich in seinem Umherstreifen der Schlechtigkeit der menschlichen Spezies und ihres verdienten Endes bewusst wird, wie er selbst versucht, ums Leben zu kommen, und wie er beim Warten auf sein Ende gegen die Überreste der Menschheit wütet, indem er alle größten und schönsten Städte der Welt unter einem Berg von Tritol explodieren lässt. Es geht schließlich darum, wie er einer jungen Frau begegnet, die ebenfalls ausnahmsweise überlebt hat, und wie er, obwohl er sich anfangs dagegen wehrt, schließlich ihrer unbefleckten Seele nachgibt und sich mit ihr, als neuer Adam und neue Eva, daran macht, eine neue Menschheit aufzubauen. Eine Menschheit, frei von der Niedertracht, die zur Zerstörung der gegenwärtigen geführt hat.
    Es ist gut, dass sie beschlossen hat, es nicht zu lesen. Diese Geschichte ist zu wahr und zu endgültig, als dass sie uns eine Hilfe wäre. In ihrer Wahrheit liegt nichts Geheimes oder Verborgenes. Das konnte Menschen so erscheinen, die noch in der Ungewissheit der Katastrophe lebten, die noch mit zu viel Stolz beladen waren, die darauf brannten, sich an sich selbst zu rächen, und sich sicher waren, ihre eigene Rache zu überleben. Insgeheim hegen sie beim Warten auf die Zerstörung der Welt den Ehrgeiz ihrer Erlösung. Jetzt wissen wir, dass die purpurrote Wolke schon seit einer Weile vorbeigezogen ist, dass alles, was verwüstet werden konnte, schon dem Erdboden gleichgemacht wurde. Und zwar nicht aus Stolz, sondern in Ausübung der Demut haben wir das klare Bewusstsein, dass das einzig Gute, das die Überlebenden tun können, um das neu zu beleben, was von der Erde geblieben ist, ist, auf die Unschuld der Kinder zu vertrauen, die sie zeugen können. Darin liegt nichts Heroisches und keine geheime Intrige; nichts Romanhaftes, was man nicht schon unsererseits schreiben konnte. Wir müssen es nur tun, und wenn wir es tun, wird man uns das Erstaunen und die Überraschung lassen müssen, die ein Roman für sich beanspruchen würde. Wenigstens ein Mal sollen sie uns versuchen lassen, das Große Finale zu schreiben.
    Morgen ist Mariä Himmelfahrt und Nita wird gebären. Sie und die Ungeborene haben sich auf die Details geeinigt: Sie wird ins örtliche Krankenhaus gehen und von Malvina begleitet werden. Sie nehmen den Karmann und Malvina wird fahren; sie sind sich sicher, dass sie während der Fahrt oder im Kreißsaal oder jedenfalls irgendwo dort Gelegenheit haben werden, einen passenden Namen für meine neugeborene Tochter zu finden. Ich habe nicht ganz begriffen, ob Malvina Auto fahren kann und insbesondere, ob sie dieses Auto fahren kann, aber ich sehe, dass Nita ein blindes Vertrauen in dieses Mädchen hat. Das habe ich auch. Bis vor Kurzem war sie hier; sie kam mit einem Stapel Aquarelle von Nazzareno. Es sind Bärenklaublätter, jedes in seinen Vorhang aus leichtem Schatten und sehr sanftem Licht gewickelt, jedes in sein unerklärliches pflanzliches Wunder gefasst. Bärenklau für die Ungeborene, damit sie, so lässt Nazzareno ausrichten, als Erstes Vertrauen in die Pflanzen gewinnt, die den Dichtern am liebsten sind. Dichter?
    Ich werde warten, morgen gibt es keinen anderen Platz für mich. Das ist eine einfache Sache, die man nicht verkomplizieren soll, sagt Nita. Einfach,
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