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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition)
Autoren: Maurizio Maggiani
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nie die eines Tyrannen sein. Wenn wir noch unsere gemeinsamen Wälder haben, wenn wir weiterhin eine Generation nach der anderen unsere alten Bräuche fortführen, und niemand, nicht einmal der König von Italien, nicht einmal Cavaliere Benito Mussolini, hat es geschafft, Hand daran zu legen, dann nicht wegen des Schriftstücks, das Ariodante von den Borgioni auf dem Platz vor dem Volk unterschrieb, das gerade seine Freiheitseiche gepflanzt hatte. Mit diesem Schriftstück haben sich König Vittorio, Cavaliere Mussolini und ihre Nachkommen Generation für Generation den Hintern abgewischt. Es ist nicht deswegen, doch aufgrund dessen, was an jenem Tag Kopf um Kopf, Herz um Herz geschworen worden war; wegen der Absicht jedes Menschen, der dort war, die so ehrlich war, dass sie auch für ihre Kinder, auch heute noch, gilt. Ein schriftliches Abkommen kann zur Makulatur werden, ein Herzensversprechen nicht. Außer das Herz wird zerrissen.
    Vlad ist ein aufrichtiger Mann, aber er ist ein mutloser Mensch; aus diesem Grund entschuldigt er sich für sich, für sein entleertes Herz, und hinterlässt seine Versprechen schriftlich. Ich möchte das nie tun.
    Ich habe versucht, diese Dinge Don Gigliante zu erklären, der wieder von Hochzeit gesprochen hat. Mitten in der Hitze mit seiner Jagdkutte, dem Gewehr und einem Sack frisch gemahlenen Mehls; das Gewehr für die Wildkaninchen, das Mehl für die Ungeborene. Für die Ungeborene gutes Brot aus gutem Mehl und den strahlenden Widerschein eines Sakraments. Und auch etwas Legalität, bei den Zeiten, die herrschen.
    Für ihn ist das schwer zu verstehen, das weiß ich wohl. Für ihn ist ein auf Papier gebrachtes Sakrament eine Frage des gesunden Menschenverstands. Was bleibt noch, wenn wir auch den gesunden Menschenverstand verlieren?
    Er hat mich daran erinnert, dass er nur deshalb auf das Thema zurückkommt, weil er uns mag. Auch ich mag ihn. Auch wenn er Ende Juli schon unterwegs ist, um auf Wildkaninchen zu schießen; er dürfte es nicht tun, das weiß er.
    Da aber keine Kaninchen zu finden waren, war er an diesem Tag auf dem Weg nach Careggine, um anzufangen, ein wenig die Kirche zu putzen und für Mariä Himmelfahrt vorzuarbeiten. Ich bin mit ihm mitgegangen, um ihm den Stein zu zeigen, auf dem das Foto meiner Hochzeit eingemeißelt ist. Er wird es zwar schon tausend Mal gesehen haben, aber ich glaube nicht, dass er sich jemals gefragt hat, was es wirklich ist.
    Es ist kein richtiges Foto, aber beinahe: Es ist ein in Stein gemeißeltes Basrelief. In alten Zeiten war es in den Kircheneingang eingemauert, doch dann hat ein Vorgänger Don Gigliantes es entfernen lassen, weil es zu viel Skandal verursachte. Jedenfalls ist es nicht weit gekommen, denn jetzt ist es drei Schritte weiter im Kirchturm eingemauert. Diesen Stein kann man gut sehen vom Haus von Aristo und seiner Nichte Malvina aus; man muss nur aus einem der Fenster schauen, die auf den Hof gehen, und da ist es, zehn Schritte diagonal hinter der Haustür. Damals hieß es auch, dieses Haus sei feindselig geworden, weil es von den beiden im Kirchturm Festgeschraubten schräg angesehen wurde. Das Basrelief stellt nämlich zwei Menschen dar, einen Mann und eine Frau.
    Siehst du, Wildererpriester, das ist alles, was Nita und ich tun können, um das zum Sakrament zu machen, was wir geworden sind.
    Er hat es aufgegeben und ist zu seinen Erledigungen gegangen: Er hat keinerlei Mitleid für Verschrobenheiten.
    Der Stein ist ungefähr so groß wie ein Plakat für ein Dorffest, und er ist sehr alt. Man weiß es nicht genau, aber die Behörde für Kunstgüter bescheinigt, dass es sich um eine heidnische Sache in christlicher Zeit handelt. Der Mann und die Frau tanzen; sie halten sich Hand in Hand, heben die Arme und machen einen Schritt, wobei sie stolz die Beine spreizen. Sie blicken vor sich hin, und ihre Augen sind zwei Schnitte in einem runden Gesicht. An ihren Füßen haben sie schwere Schuhe, das Filzschuhwerk der Väter unserer Väter, und sie tragen grobe Kittel. In seiner freien Hand hält der Mann eine Lanze, die Frau einen Dolch. Man weiß, dass es Mann und Frau sind, weil aus den Kitteln riesige Geschlechtsteile herausschauen: ein Penis und eine Vagina. Und mehr weiß man nicht. Es heißt, es sei ein Kriegstanz, es heißt, es sei ein Jagdtanz; doch man weiß von keinem anderen Ort der Erde, wo Männer und Frauen jemals zusammen Krieg geführt und gejagt hätten; und dann getanzt, Hand in Hand, die Waffen in der Faust.
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