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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition)
Autoren: Maurizio Maggiani
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Waisen aus dem Äquatorwald, dem Freund des großen Orson Welles, dem Befreier Italiens, dem treubrüchigen Verrückten. Und da, in dieser Legende, ist, so will ich hoffen, auch Platz für mich. Alles Dinge, die anderen obliegen. Ich meinerseits müsste in diesem Moment eine Wahl treffen, ich glaube, zuerst würde ich sie ihrem Vater bei der Arbeit zusehen lassen. Ich werde sie bei einer herrlichen Explosion dabei sein lassen, einem regelrechten Kunstwerk. Damit auch ich meiner Wege gehen kann im Wissen, dass wenigstens dies getan ist: Sie hat das gesehen, wovor sie keine Angst zu haben braucht. Wovor sie sich zu fürchten hat, darum wird sich Nita schon kümmern.
    Hitze oder keine Hitze, das neue Zimmer ist inzwischen schon vorangekommen, und der moldawische Maurer Vlad hat es uns schriftlich gegeben, dass wir vor der Kälte die Presswürste an die Dachbalken hängen können. Aufgeschrieben in seiner verwirrenden Sprache, halb lateinisch, halb slawisch, auf einen Lieferschein, mit einem Kugelschreiber eingraviert, als wäre dieses Stück Papier aus Stein gewesen, macht die Erklärung einen ziemlichen Eindruck.
    Wir sind bei den Papieren, denn Vlad will die Dinge anständig machen, und er sagt, um zu sehen, ob die Dinge wirklich anständig gemacht worden sind, braucht man etwas Schriftliches. Vor allem wenn ein Ehrenversprechen auf dem Spiel steht, wie die Verpflichtung, ein Dach zu decken, bevor es ins Haus hineinschneit. Als Enkel der mächtigen Sowjetbürokratie, Sohn der Missgunst eines Regimes von miesen Betrügern hat Vlad einen Respekt vor der Stimme des Papiers, den ich nicht kenne. In Newcastle wollte mein Professor, dass ich ihm die Formel eines chemischen Prozesses von beliebiger Komplexität auswendig entwickle; erst dann, wenn ich das konnte, durfte ich sie aufschreiben, um die Endnote für das Semester zu bekommen. Die schriftliche Prüfung war die Regel der Schule, aber nicht seine Lehrmethode. Ich verstand, was er von mir wollte, und war einverstanden, auch wenn die Mühe unendlich viel größer war.
    Schreiben hilft sofort, denn es ist der beste Zeuge und sicherste Führer des Gedankens. Wie wenn du an der Hand genommen wirst, wenn du nicht sicher auf den Beinen bist, oder dem nicht traust, was du vom Weg weißt. Schreiben ist eine Bequemlichkeit. Doch auf lange Sicht schwindet das Papier, und das Einzige, was wirklich bleibt, ist der Gedanke, den du darauf schreiben musstest. Das, was du weißt. Ich weiß noch alle Formeln, die man mich abgefragt hat, ich erinnere mich nicht an eine einzige Note, die ich bekommen habe, außer dass es gute Noten waren, soweit sie heute noch etwas zählen. Und also nichts.
    Ich bin Bücherleser, ich lebe mit einer zwanghaften Leserin zusammen, doch daran denke ich nicht; nicht an das Papier, das die Geschichten besingt, sondern an das, welches die Versprechen deklamiert und die Eide verewigt. Wie viele Hoffnungen haben die Menschen dem Papier anvertraut. All ihre besten. Wie viel Zorn wurde besänftigt, wie viel Schmerz gelindert. Wie viele tüchtige Menschen wie Vlad, der Moldawier, wurden mit einem Stück Papier bei der Stange gehalten. Wie viele Schlachten glaubten die nach Gerechtigkeit Dürstenden zu gewinnen, indem sie den Ungerechten ein feierliches schriftliches Abkommen aufzwangen. Wie viel Leid erlegten sich die Mitleidigen auf, um die höchsten Worte, die edelsten Ausdrücke zu finden, die sie herzlosen Menschen zur Unterschrift vorlegten. Wie viel anstößige Machtgier, wie viel Rachedurst hielt die Hand der Gegenzeichner fest. In Castiglione, auf den Dachböden der Festung, bewahrt das Revier eifersüchtig ein paar Zentner im Laufe der Jahrhunderte gesammelter Schriftstücke auf; sie dokumentieren Patente, Privilegien, Konzessionen, Befugnisse, Verpflichtungen und Verfassungen. Gebrochene, widerrufene, verschleierte Eide. Und so auf allen Dachböden der Welt; wenn ich zwischen den Balken der Bodenkammer herumstöberte, würde ich auch bei mir zu Hause welche finden.
    Der Punkt ist, wenn man ein Abkommen, ein Versprechen schwarz auf weiß festhält, lässt man den Kern der Sache außen vor, die wichtige Lappalie, würde Nita mit ihrer blühenden Sprache sagen: die Absicht. Papier ist zu armselig, um sie aufnehmen zu können; Papier hat einen geringen Preis, und jeder kann es sich für ein paar Lire holen. Eine Absicht gibt man nicht weg, auch nicht, wenn man es will. Die Absicht des Gerechten wird nie die des Treubrüchigen, die Absicht eines Freien wird
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