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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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viel Energie in die Nahrungsbeschaffung stecken, denn die Nahrungs- und Wasserzufuhr war unterbrochen. Mutter hält es nicht mehr für notwendig, ihren Sohn zu unterstützen: kein gesunder Wochenplan, keine Delikatessen für das Tier, kein Heilwasser, keine Vaterpastillen, an die ich mich so gewöhnt hatte. Obwohl Vater doch für die Rettung des Tiers verantwortlich war, hat er sich mittlerweile abgewendet und uns verraten: kein Pillenlutschen, kein Astronauten-Ernährungsplan, keine Tegetmeyer-Cremes, schon lange keine Infusionen mehr. Er muss sehr enttäuscht von mir sein. Seitdem das Tier von seinem Aufpäppelungsprogramm ausgeschlossen wurde, siecht es dahin, zieht, wie eine Schnecke, einen grünen Schleimstreifen, der seiner Kloake entstammt, hinter sich her. Im Zimmer, im Uhrzeigersinn um die Matratze, 76 tippelnde Schritte, immer wieder herum.
    Schlagartig: nichts. Wenn etwas zu Ende geht, werde ich immer gleich sentimental. Also schrieb ich eine ganze Flut von Nachrichten, in denen ich Mutter darum bat, noch ein wenig auszuharren. Keine Antwort, lediglich wie sie die Zettel unnötigerweise noch auf der Türschwelle zerknautschte, provozierend fallen ließ, davonstakste. Etliche Male ging das so. Sie wollen mich weiter prüfen, dachte ich, oder sie haben den Glauben an ihr Projekt verloren. Ich beschloss, mich doppelt anzustrengen. Das Tier hatte schlicht Durst.
    Wir haben uns abermals angepasst. Über die neue Internetleitung bestellte ich vom Baumhaus aus eine Mikrowelle, kistenweise Konservendosen und Instantgerichte. Ich glaube, Vater nahm die Pakete an und war so nett, sie vor der Tür abzustellen. In der Nacht schlich ich raus und ergatterte mir auf der Tour noch den Wasserkocher aus der Küche. Auch hier ist es der Strom, der eine ganze Welt am Leben hält. Eine Wand nimmt der Proviant nun in Gänze ein, von oben bis unten. Ich habe ausgerechnet, ein Jahr damit durchkommen zu können. Die Wasserbeschaffung war hingegen weitaus komplizierter. Ich schnitt mit dem Brotmesser einen Spalt in die Kokonwand, um ans Fenster zu gelangen. Es war mitten in der Nacht, in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser blinkten vereinzelt Weihnachtssterne, waren Lichterketten in Form von Tannenbäumen angebracht, ein Weihnachtsmann flog auf seinem Schlitten, die Rentiere davorgespannt, durch die Nacht. Nur Karls Fenster wurde durch flackerndes Blau unruhig beleuchtet. Er schien der Einzige zu sein, der wach war.
    Ich betrachtete lange die Fassade, erst dann richtete ich meinen Blick auf den mit Sternen übersäten Himmel. Es war lange her, dass ich so weit hatte sehen können. Es kam mir beinahe unwirklich vor, dass ein realer Raum existiert, der nicht von einer Wand begrenzt wird. Sehr erinnerte mich der Nachthimmel an den in Welt 0. Es tat gut, nicht an eine Grenze zu stoßen, an eine der Türen, an einen der Bildschirme. Ich spürte, wie meine Augen entspannten, ich bemerkte, dass sie die ganze Zeit über gejuckt haben mussten, denn ich hatte plötzlich kein Verlangen mehr, sie zu reiben. Der Nachthimmel war nur schwach von der im Stand-by-Modus ruhenden Stadt erleuchtet, wolkenlos. Die Sterne funkelten, als würden sie ihr Licht immer wieder an- und ausmachen. Wie in Seenot geratene Schiffe, die SOS -Lichtzeichen geben. Mir gefiel der Gedanke, ebenfalls Signale auszusenden, wie ein Leuchtturm, an dem man sich orientieren kann. Ich blickte hinunter auf die Pflastersteine. Sie lagen verlassen da, von Schnee und Eis frei geschippt. Niemand war wach, niemand nahm sich die Zeit, diese wunderbaren Sterne zu betrachten, niemand empfing ihre Signale. Das ist das Grundproblem, dachte ich, und dass vielleicht ich es sein müsse, der daran etwas ändert.
    Beinahe hätte ich die eigentliche Aufgabe vergessen: Wasser. Entlang des Erkers verläuft die Regenrinne. Mit einem Schraubenzieher stach ich ein Loch vom Umfang des Schlauches ins Metall, den ich online bestellt hatte. Der Schlauch passte nicht, das Loch war zu groß geraten, mit Paketband dichtete ich alles ab und schloss den Kokon bis auf das Loch für den Schlauch. Wenn es regnen oder wenn Schnee auf dem Dach schmelzen sollte, würde ein Teil des Wassers so in mein Zimmer abgezweigt und hier von einer Wanne aufgefangen. So würde es funktionieren.
    Zum ersten Mal bin ich auf niemanden mehr angewiesen.
    Rücklings liegen wir zu dritt auf dem Dach des Baumhauses und lassen uns von der Sonne bräunen. Wenn wir Durst verspüren, greifen wir nach den Soda-Getränken, bei
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