High Heels und Gummistiefel
nützte nichts. Agathe war verschwunden.
Allmählich machte Amelie sich Sorgen. Sie hatte überall nach Daisy gesucht, vergeblich. Wohin war ihre Freundin nur verschwunden? Gerade hatte sie Agathe vorbeigehen sehen, hatte sich jedoch nicht getraut, sie anzusprechen. Agathe hatte sie nie ernst genommen und würde sie nur abweisen wie ein lästiges Kind. An wen sollte sie sich bloß wenden?
Zuerst war Daisy tapfer gewesen, hatte sogar über ihre eigene Dummheit gelacht. Wie hatte sie nur so blöd sein können, sich so von Agathe aussperren zu lassen? Ihre französische »Freundin« hatte gar nicht so falschgelegen, als sie gesagt hatte, Daisy sei nicht eben die Hellste. Im Grunde war das sogar die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen!
Dann, während sie darauf wartete, dass Agathe zurückkam – bestimmt würde sie doch zurückkommen? -, hatte Daisy sich selbst zerfleischt, indem sie den Film ihres Pariser Lebens erneut hatte ablaufen lassen und dabei bei jedem Beispiel ihrer eigenen Naivität verweilte. Letzten Endes jedoch, sagte sie sich unglücklich, war das, was ihr widerfahren war – zwei gescheiterte Liebesbeziehungen, eine rein imaginäre Freundschaft mit Agathe und, just in diesem Moment, die Tatsache, dass sie in einem zerrissenen, zerknitterten Kleid und mit Strümpfen voller Laufmaschen vor Kälte zitterte -, das alles war wirklich ein Klacks. Nein, richtig schrecklich war, dass sie dadurch, dass sie sich von Agathe auf diese Weise hatte kaltstellen lassen, Isabelle die Doktorarbeit ruiniert hatte. Genau jetzt raffte Agathe wahrscheinlich das Manuskript an sich, das Isabelle aus London mitgebracht hatte, und morgen würde sie bei Professeur Sureau eine ebenso gelungene Vorstellung abliefern wie die, die Daisy auf diesem verdammten, sehr, sehr kalten Dach hatte landen lassen. Währenddessen amüsierte sich die arme Isabelle gewiss ganz unschuldig dort unten und kam nicht einmal im Traum auf den Gedanken, dass Agathe ihr mit einer Guillotine auflauerte oder irgendetwas in der Art. Dicht an die Kuppel gekauert, schaute Daisy zu den schimmernden Sternen hoch und begann zu weinen.
Unsicher, was sie tun sollte, kehrte Amelie unwillkürlich zu ihrer Schwester zurück, die gerade mit ihrem Handy telefonierte.
»Das ist Octave«, flüsterte Claire ihr zu. »Sie sind gleich hier.«
Einem Impuls folgend, streckte Amelie die Hand aus. »Ich möchte gern mit ihm sprechen.«
»Okay«, antwortete Claire verdattert. »Octave, Amelie möchte dich kurz sprechen. Aber mach schnell«, setzte sie hinzu, als sie ihrer Schwester das Handy reichte. »Ich dachte, du möchtest die Quadrille sehen?«
»Ja, ja, wir treffen uns dort.«
»Wie du willst«, schniefte Claire gereizt, ehe sie in einer raschelnden Wolke aus blassgrünem Chiffon davonstolzierte.
»Allô, Octave ?«, sagte Amelie, sobald Claire fort war.
»Allô, petite Amélie«, antwortete Octave freundlich. »Und, amüsierst du dich?«
»Nein, eigentlich nicht! Hör zu, ich brauche deine Hilfe. Ich kann Daisy nirgends finden. Ich habe Angst, dass ihr irgendwas passiert ist.«
»Keine Sorge«, erwiderte Octave leichthin. »Daisy hat wahrscheinlich auf dem Ball eine neue Eroberung gemacht, das ist alles.«
»Bitte hör zu, Octave!«, flehte Amelie den Tränen nahe. »Agathe und Clothaire haben irgendetwas vor! Du musst Isabelle warnen! Sag ihr, sie soll das Manuskript verstecken, das sie aus London mitgebracht hat, weil Agathe es stehlen will!«
»Agathe will... was stehlen?« Jetzt schlug Octave einen ernsteren Ton an. »Ganz ruhig, Amelie, und fang noch mal ganz von vorne an.«
Amelie schilderte kurz das Gespräch, das sie und Daisy belauscht hatten.
Octave hörte aufmerksam zu, dann sagte er: »Ich verstehe. Mach dir keine Sorgen. Marie und ich sind gerade ganz in der Nähe von Isabelles Wohnung. Bertrand und Stan sind auch bei uns, und außerdem Gaspard und ein paar von seinen cataphile- Freunden . Das sind eine Menge Roller. Wir holen Isabelle und ihre Freunde ab, und dann treffen wir uns in einer Viertelstunde am Eingang. Behalte du inzwischen Agathe und Clothaire im Auge, okay?«
»Ah, chers amis , da seid ihr ja endlich!«, rief Octave eine halbe Stunde später mit seiner weltgewandtesten und charmantesten Stimme. »Bonsoir!«
Agathe und Clothaire hatten zusammen dagestanden und zugesehen, wie Männer in Uniform und junge Frauen in rot-schwarzen Kleidern durch eine Quadrille von militärischer Präzision gewirbelt waren. Sie
Weitere Kostenlose Bücher