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Hier hat s mir schon immer gefallen

Titel: Hier hat s mir schon immer gefallen
Autoren: Annie Proulx Melanie Walz
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Zwei Söhne genügten ihr nicht, es verlangte sie nach einer Tochter.
    »Meine Schwestern Irene und Daisy. Irene wohnt in Greybull, Daisy lebt irgendwo in Kalifornien. Und die kleine Goldie starb, wie gesagt, als ich sechs oder sieben war. Der Jüngste, der am Leben blieb, war Roger. Mamas letztes Kind. Er kam auf die schiefe Bahn. Wurde als Einbrecher eingebuchtet«, sagte er. »Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.« Unter dem Unkraut, abgeschrieben, unsichtbar.
    Unversehens war er von dem verbrecherischen Bruder zu einem anderen Thema übergegangen. »Du musst wissen, dass ich meinen Dad geliebt habe. Wie wir alle. Er und Mutter haben sich die ganze Zeit geherzt und waren fröhlich, wenn er zu Hause war. Er konnte wunderbar mit Kindern umgehen, hat einen immer angelächelt und in die Arme genommen, hat sich an alles erinnert, was einen interessierte, hat dauernd kleine Geschenke mitgebracht. Ich habe noch jedes einzelne.« Seine Stimme zitterte wie die des alten Pferdefängers in dem Schneeregen vor ewigen Zeiten.
    »Es ist anstrengend, an die alten Sachen zu denken. Ich glaube, ich mache lieber eine Pause«, sagte er. »Außerdem kommen heute zwei Neue, und neue Leute sind für mich immer furchtbar anstrengend.«
    »Frauen oder Männer?«, fragte Beth, die erleichtert war, dass sie den Recorder ausschalten konnte, denn sie sah, dass ihr einziges Band fast zu Ende war. Ihr fiel ein, dass sie vorher die Chorprobe in der Schule aufgenommen hatte.
    »Weiß ich nicht«, sagte er. »Werde ich beim Abendessen sehen.«
    »Ich komme nächste Woche wieder. Ich finde, was du sagst, ist wichtig für unsere Familie.« Sie küsste den alten Mann auf die pergamentene Stirn mit den braunen Altersflecken.
    »Wart’s ab«, sagte er.
     
    Als sie gegangen war, begann er wieder zu sprechen, als liefe das Band noch. »Er starb im Alter von siebenundvierzig Jahren. Damals kam mir das richtig alt vor. Warum ist er nicht rausgesprungen?«
    Berenice Pann, die ein noch warmes Schokotörtchen in seiner Papierform brachte, blieb vor der Zimmertür stehen, als sie seine Stimme hörte. Sie hatte Beth vor ein paar Minuten gehen sehen. Vielleicht hatte sie etwas vergessen und war zurückgekommen. Berenice hörte einen Laut wie ein ersticktes Schluchzen. »Gott, war das lausig«, sagte Mr. Forkenbrock. »Wir mussten arbeiten. Mann, ich bin gern in die Schule gegangen. Aber keine Chance, wenn man mit dreizehn zu arbeiten anfangen muss«, sagte er. »Wenn die Bledsoes nicht gewesen wären, hätte ich als Landstreicher geendet«, sagte er im Selbstgespräch. »Oder schlimmer.«
    Berenice Panns Freund Chad Grills war der Urenkel der alten Bledsoes. Sie lebten noch auf der Ranch, auf der Ray Forkenbrock in seiner Jugend gearbeitet hatte, beide fast an die hundert Jahre alt. Berenice begann neugierig zu lauschen; sie fand, dass sie durch die Bledsoes gewissermaßen mit Mr. Forkenbrock verwandt war. Sie war es sich selbst und Chad schuldig, so viel wie möglich über die Bledsoes zu erfahren, Gutes wie Schlechtes. In dem Zimmer war es still; dann wurde die Tür aufgerissen.
    »Huch!«, rief Berenice, und das Törtchen verrutschte auf dem Unterteller. »Ich wollte Ihnen gerade diesen Kuchen …«
    »Ach nee?«, sagte Mr. Forkenbrock. Er nahm das Törtchen von dem Unterteller, und statt hineinzubeißen, stopfte er es sich mitsamt der Papierform in den Mund. Das Papier knirschte zwischen seinem Gebiss.
     
    Zur Gemeinschaftsstunde erschien Mr. Mellowhorn, um die neuen »Gäste« vorzustellen. Church Bollinger war relativ jung, kaum fünfundsechzig, und Ray durchschaute ihn sofort als Faulpelz. Zweifellos war er in das Altersheim gekommen, weil er nicht die Energie aufbrachte, sein Bett zu machen oder sein Geschirr zu spülen. Der andere Neuzugang, Mrs. Terry Taylor, war in seinem eigenen Alter, um die achtzig, was die rot gefärbten Haare und die karmesinroten Fingernägel nicht verdecken konnten. Sie sah weich und zerfließend aus wie eine Kerze in der Sonne. Immer wieder heftete ihr Blick sich auf Ray. Ihre Augen waren gelbbraun, mit kurzen, spärlichenWimpern, und die dünnen alten Lippen waren so stark geschminkt, dass rote Lippenstiftspuren an ihrem Brötchen kleben blieben. Zuletzt konnte er ihren Blick nicht länger ertragen.
    »Wollen Sie mich was fragen?«, fragte er.
    »Sind Sie Ray Forkenknife?«, sagte sie.
    »Forkenbrock«, sagte er fassungslos.
    »Ja, richtig, Forkenbrock. Erinnern Sie sich nicht an mich? Theresa Worley. Aus Coalie Town.
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