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Hesse-ABC

Hesse-ABC

Titel: Hesse-ABC
Autoren: Gunnar Decker
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immer mehr zum strengen Ordnungsden-
    ker. So gibt er sich im »Glasperlenspiel« deutlich anti-virtuos. Das
    Ganze tritt auf als Hierarchie, in die sich der einzelne einzufügen
    lernen muß. Ganz ohne jene rauschhaften Steigerungen, die Hes-
    se selbst mit seinem jugendlich-romantischen Künstlerideal so
    vehement eingefordert hatte. Die Frage aber steht: Was für eine
    Musik werden wir zu hören bekommen – ohne die Virtuosen?

    Vivos voco
    »Ich rufe die Lebenden.« 1919 gegründete politisch-literarische
    Zeitschrift, die Hesse bis Ende 1921 mit herausgab. Ziel war eine
    Versöhnung mit den vormaligen Kriegsgegnern und die Mahnung
    an die eigenen Landsleute, den Nationalismus als Krankheit am
    Grunde der Volksseele zu überwinden. Hesse schreibt im Vorwort
    zum ersten Heft, es drohe »... die geistige Not und Ratlosigkeit des
    Volkes und zumal des Wertvollsten, was wir haben: unserer Ju-
    gend. Hier handelt es sich nicht um Abrechnungen und Schuldfra-
    gen, hier liegt Leid und Elend nackt vor unseren Augen und
    schreit um Beistand ...«
    Vor allem empört Hesse der ↑ Antisemitismus, die »blödsinnig e pathologische Judenfresserei der Hakenkreuzbarden«. Mit Sorge
    sieht er, wie hier antidemokratische Ressentiments im Schatten
    des verlorenen Weltkrieges ganz unverfroren zur Vorbereitung
    eines neuen Krieges instrumentalisiert werden.

    Vogel
    Für alle seine drei Ehefrauen schrieb Hesse jeweils ein Vogel-
    Märchen. Für Maria Bernoulli 1918 ↑ » Iris«, fü r Ruth Wenger 1922
    ↑ » Piktors Verwandlungen« und fü r Ninon Ausländer 1933 eines ganz direkt mit dem Titel »Vogel«. Hesse ist Vogel ist Vogel ist
    Vogel, um mit Gertrude Stein zu sprechen. Er selbst als Verwand-
    lungsfigur.
    In »Iris« ein traurig-klagender Vogel, den die »gestorbene Iris«
    nicht mehr zu hören vermag: Hesses Abschied von seiner ersten
    unglücklichen Ehe mit der gemütskranken Maria Bernoulli. In »Pik-
    tors Verwandlungen« ist es ein schöner bunter Vogel, als der Hes-
    se sich, frisch verliebt, der jungen Ruth Wenger präsentiert.
    Vögel begegnen uns viele in Hesses Texten; wir wissen ja, wer
    hier der Ur-Vogel ist (Hesse selbst, auf der Suche nach ↑ Abraxas !).
    Im ↑ »Demian« gibt es ein Kapitel »Der Vogel kämpft sich aus dem Ei«. Ein Selbstfindungskapitel. Noch der alte Hesse bekennt sich
    zur unbestimmten Wandererexistenz, im ewigen Niemandsland
    zwischen ↑ Bürger und Vagabund. Der Wolkengänger ist überall
    und nirgends zu Hause. So lautet Hesses Dichtercredo in »Die
    Dohle« (1951). Im Märchen »Vogel« für seine dritte Frau Ninon
    bedient sich Hesse wiederum jener höchst symbolischen Sprache,
    die alle seine Märchen zu Parabeln der eigenen Existenz werden
    läßt. »Vogel« hebt an: »Vogel lebte in früheren Zeiten in der Ge-
    gend des Montagsdorfes. Er war weder besonders bunt noch sang
    er besonders schön, noch war er etwa groß und stattlich; nein, die
    ihn nicht gesehen haben, nennen ihn klein, ja winzig. Er war auch
    nicht eigentlich schön, eher war er sonderbar und fremdartig, er
    hatte eben das Sonderbare und Großartige an sich, was alle jene
    Tiere und Wesen an sich haben, welche keiner Gattung noch Art
    angehören. Er war nicht Habicht noch Huhn, er war nicht Meise
    noch Specht noch Fink, er war der Vogel des Montagsdorfs...«
    Das Montagsdorf ist, wie sich unschwer erraten läßt, Montagnola.
    Dahin hat sich Vogel geflüchtet vor den »Machthabern des ostgo-
    tischen Kaiserreiches«, sprich der nationalistischen Haß-Presse
    Deutschlands. Vogel kann man auch als ein Plädoyer für das Pa-
    thos der Distanz im Sinne Nietzsches lesen. Einer, der aus der Hö-
    he hinabblickt, nicht teilhat, bloß beobachtet. Nicht aus dem
    bequemen Elfenbeinturm, sondern – ungeschützt – aus jener Hö-
    he, wo die Luft dünn wird und es kalt ist.
    »Vogel« bekräftigt Hesses wachsenden Wunsch nach ungestörtem
    Alleinsein. Ein Vogel an sich ist kein Vogel für alle, eben weil er
    sich jedem bestimmten Namen verweigert. Am ehesten nahe
    kommt Vogel noch Harry der ↑ Steppenwolf, aber auch das scheint
    schon eine unzulässige Bestimmung des Unbestimmbaren.
    Nur Ninon allein braucht Vogel wirklich. Und gerade an Ninon
    wäre der Druck dieses Märchens fast gescheitert. Hesse schreibt
    »Vogel« zu Ninons 38. Geburtstag am 18. September 1933. Das
    Märchen soll in die Sammlung »Traumfährte. Neue Erzählungen
    und Märchen« aufgenommen werden. Aber Ninon will folgenden
    Passus gestrichen sehen:
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