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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Boot gesetzt und wollte mit ihnen über die Donau in die Slowakei. Das Boot war gekentert und die fünfköpfige Familie und der Schlepper waren ins Wasser gestürzt. Während sich der Vater und der älteste Sohn ans gekenterte Boot klammerten, mussten sie mit ansehen, wie den anderen die Kraft ausging und sie in den eisigen Fluten versanken. Der Schlepper hatte sich mit den zwei Überlebenden zurück ans Ufer retten können und war verschwunden. Die Polizisten, die sie befragten, zogen ohne Ergebnisse wieder ab. Niemand konnte oder wollte sich an den Namen des Schleppers erinnern.

DIE LETZTE GRENZE
    Er war nicht einmal überrascht. Als er aufwachte und sah, dass sein Onkel verschwunden war, spürte er nur Zorn und Enttäuschung. Dabei war er vor allem enttäuscht von sich selbst. Wie hatte er nur glauben können, sein Onkel hätte sich geändert? Wie hatte er nur wieder einem Menschen vertrauen können, der ihn schon einmal in Stich gelassen hatte? »Vertraue niemandem!«, hatte sein Vater gesagt. Er hatte viele Menschen auf dieser Flucht getroffen und ein paar von ihnen hatte er vertrauen müssen. Fahid, Hanif, Sayyid, all den Freunden, die er auf dem langen Weg gefunden hatte. Er war ein Fremder für sie gewesen, er gehörte nicht zu ihrem Clan oder ihrer Familie. Trotzdem hatten sie ihn aufgenommen wie einen verlorenen Sohn und hatten sich um ihn gekümmert. Niemals hätten diese Menschen ihn hier mit einer Ausrede sitzen lassen.
    Seinem Onkel aber, seinem eigenen Fleisch und Blut, war er ein Klotz am Bein. Aber er würde ihm nicht nachlaufen. Er hatte es so weit ohne seine Hilfe geschafft und er würde es den restlichen Weg auch noch schaffen. Er würde nach Österreich gehen und dann weiter nach London. Er würde hungern und frieren, betteln und kämpfen, aber er würde sich nicht mehr
von seinem Onkel demütigen lassen. Er brauchte ihn nicht. Sowieso bezweifelte er, dass sein Onkel überhaupt Freunde in London hatte.
    Der Tag verstrich ereignislos. Das einzig Aufregende waren die ersten Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Ziellos spazierte Hesmat in der Umgebung des Lagers umher und dachte nach. Es gab Dinge, die man nicht ändern konnte, und es war an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Die Zeiten, als ihn jemand an der Hand genommen und getröstet hatte, waren lange vorbei. Auch wenn sich sein Onkel tatsächlich aus Österreich melden sollte, er würde ihm danken, würde ihn benutzen, um weiterzukommen. Doch dann würde er sein eigenes Leben beginnen. Ohne den Großvater, ohne den Onkel, ohne seine Verwandtschaft.
    Er malte sich aus, wie er in London Geld verdienen würde. Viel Geld. Er konnte ordentlich zupacken und einstecken. Er würde sparen, aber dann würde er seinen Bruder aus Afghanistan holen. Nun, wo die Amerikaner die Taliban bekämpften, war vielleicht bald alles vorbei. Dann könnte er seinen Bruder vielleicht sogar in Kabul in einen Flieger steigen lassen und ihn am Flughafen in London in die Arme schließen.
    Er hatte keine Zeit, sich über seinen Onkel zu ärgern, er musste jetzt an seine Zukunft denken, neue Pläne schmieden. Er würde sich den Moldawiern anschließen. Er hatte noch dreihundert Dollar und seine Eltern und Fahid würden ihre Hände schützend über ihn halten, Zweifel daran ließ er nicht aufkommen.
    Dann erinnerte er sich an die Afghanen, die er in Kiew getroffen hatte und die nach Wien wollten. Sie würden ihm helfen und ihn mitnehmen. Er würde in Wien arbeiten, Geld verdienen und schließlich weiter nach London fahren.
    Plötzlich kamen ihm erneut Zweifel. London? Was wollte
er jetzt noch in dieser Stadt? Hatte er nicht nur wegen seines Onkels dorthin gewollt? Doch diese Entscheidung vertagte er. Zuerst musste er nach Österreich, beschloss er und schob alle Zweifel beiseite, dann würde er weitersehen.
    Schon zwei Tage später war sein Onkel zurück. Er hatte es auch allein nicht geschafft. Sie fingen ihn ein wie die anderen und schickten ihn zurück ins Lager. Hesmat wandte den Blick ab, als er durch die Tür kam und sich halb erfroren an den Ofen setzte.
    Es klang alles so einfach. Sie mussten westlich der Donau an Budapest vorbei und dann nördlich der Stadt über die Grenze. Sie hatten sich noch darüber gestritten, ob sie wie normale Bürger ein Zugticket kaufen oder doch mit einem gemieteten Wagen durch den Schnee an die Grenze fahren sollten. Die Wahl war schließlich auf den Zug gefallen. Die Wochen, in denen sie mit ihrem Ausweis wie freie Bürger in
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