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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Polizist erledigte müde seine Arbeit
und füllte die Computerformulare in einer Mischung aus schlechtem Russisch und Englisch aus, während die Kinder am Fußboden längst eingeschlafen waren. Schließlich kramte er in seiner Schublade nach Essbarem und schenkte ihnen eine angebrochene Tafel Schokolade.
    Sie hatten Polizisten, Grenzposten und Kontrolleure in grünen, grauen, in blauen und so vielen anderen Farben gesehen, waren vor ihnen geflohen, hatten sich vor ihnen versteckt, waren von ihnen aufgegriffen, geschlagen, erpresst, schlecht und manchmal weniger schlecht behandelt worden, dass sie jetzt überrascht waren, jemandem gegenüberzusitzen, der vollkommen gelassen war. Er erhob kein einziges Mal seine Stimme, tippte seelenruhig in den Computer, was er von den Flüchtlingen verstehen konnte, schenkte ihren Kindern Schokolade und hatte nichts einzuwenden, wenn sie die Toilette benutzten. Er hatte seine Dienstpistole in den Schrank hinter seinem Schreibtisch gesperrt und den Schlagstock an den Wandhaken gehängt. Er erledigte seinen Bericht und führte sie schließlich in eine geräumige Zelle.
    Ein Kollege brachte ihnen Decken, Tee und Informationen. Auf Russisch zerstreute er ihre Befürchtungen: »Zuerst geht es morgen ins Lager.« Dort würde man ihre Situation abklären und entscheiden, was mit ihnen passieren sollte. »Alles gut«, sagte er beruhigend.
    Am frühen Morgen waren sie in den Bus gestiegen und zusammen mit acht anderen Flüchtlingen ins Lager aufgebrochen. Die Wärme hatte Hesmat müde gemacht, und als er sich umsah, bemerkte er, dass der gesamte Bus bereits schlief. So hatte auch er die Augen geschlossen.
    Hesmat wachte erst auf, als auf dem Wegweiser nach Bratislava die Zahl Elf verschwommen an den angelaufenen Scheiben
des Kleinbusses vorbeizog. Bald darauf kamen sie im Lager an.
    Anscheinend wollten die Slowaken die Flüchtlinge so rasch wie möglich wieder loswerden. Wie sie das Lager und das Land verließen, war ihnen egal, Hauptsache weg. Sie erzählten ihnen sogar von den besten Plätzen, um über die Grenze nach Österreich zu kommen. Wenn sie sich organisieren würden, wären sie innerhalb einer Nacht in Österreich. Österreich, das Land, über das Hesmat so wenig wusste wie über all die anderen Stationen ihrer Flucht. Niemand hatte ihm davon erzählt.
    Nein, Tuffon hatte ihn nicht belogen. Er hatte es selbst nicht besser gewusst. »Wenn du einmal in Moskau bist, ist alles andere eine Kleinigkeit«, hatte er ihm gesagt. Wie sollte Tuffon auch wissen, wie schwer die Reise in den Westen war? Er saß in einem fernen Land und musste sich auf Erzählungen verlassen. Hesmat konnte ihm keinen Vorwurf machen. Es zählte nur, dass er hier war. Gesund und am Leben, irgendwo an der Pforte zu Europa. Sie würden auch diese Grenze überschreiten, einmal mehr in ein fremdes Land eindringen und sich verstecken, darauf hoffen, dass sie nicht erwischt würden. Aber was dann? Wieder ein Lager, wieder die Suche nach der nächsten Grenze, wieder das Warten auf Informationen, das Hoffen, dass die Flucht endlich ein Ende haben würde?
    Inzwischen sprach sein Onkel von Italien. Österreich sei nur eine Zwischenstation, danach käme Italien, dann vielleicht Frankreich, vielleicht aber auch ein Schiff, das sie besteigen würden, um nach England zu gelangen. Weitere Stationen, weitere Lager, weiter, immer weiter. Nie ein Ankommen. Wie lange würde es noch so gehen? In ein paar Monaten wäre er vielleicht in London, und dann?
    Die Flucht war das einzige Thema, das die insgesamt rund 40 Gestrandeten im Lager kannten. Sie konnten Europa schon
nahezu spüren. Irgendwo vor ihnen im Westen, keine 40 Kilometer entfernt, lag ihre Zukunft. Sie wollten nach Österreich, nach Deutschland, nach Italien.
    »Morgen«, sagte sein Onkel nach acht Tagen, »morgen gehen wir.«
    Der Moldawier hatte mit einem Freund in Wien telefoniert und einen Einheimischen gefunden, der sie für 200 Dollar im Boot über die Grenze bringen würde. Jenseits des Flusses würde sie sein Bruder abholen und nach Wien bringen.
    Doch am nächsten Morgen verbauten ihnen ein Schneesturm und fünfzig Zentimeter Neuschnee den Weg in den Westen.
    »Es wäre Selbstmord«, sagte der Moldawier, »wir müssen noch warten.«
    Wieder gab es Gerüchte, wieder hieß es, sie würden verlegt. Wieder wurde von einem neuen Lager gesprochen, in das sie alle gebracht werden sollten und das weit östlich von Bratislava lag.
    Als es Abend wurde, marschierten sie los
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