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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Die Beurteilung und die Entscheidung über ihr Schicksal waren völlig unpersönlich. Die Aufnahme, die Zimmerzuteilung, die Befragung, das Ausfüllen der Fragebogen erfolgten beinahe mechanisch. Die Verantwortlichen drückten Stempel auf Papiere und Ausweise, drückten schwarze Farbe auf Leben, die sie nicht kannten, Leben, denen sie damit weitere Hoffnung schenken oder die sie in die Hölle verbannen konnten. Menschen urteilten jetzt über sie wie Götter, Menschen, die die Länder, aus
denen die Flüchtlinge kamen, nicht kannten, selbst nie eine einzige Nacht in der Kälte, in Angst, auf der Flucht verbracht hatten.
    Viele von den anderen waren schon seit Monaten hier. Sie sprachen eine Sprache, die Hesmat erst lernen musste. Er wusste nichts von Asylanträgen, von Aufenthaltsbewilligungen, von Abschiebung und Schubhaft. Täglich lernte er dazu, täglich bekam er mehr Angst. Die Alteingesessenen schätzten die Lage der Neuangekommenen ein, gaben ihr Urteil ab. Sie gaben Hesmat von vornherein keine Chance.
    »Du wirst schneller weg sein, als du glaubst«, sagten sie. »Es läuft so: Als Junge hast du hier kaum eine Chance auf Asyl. Du kannst ein paar Monate bleiben, aber dann gibt’s irgendwann den Bescheid und du musst wieder raus. Du kannst abhauen, aber wenn sie dich schnappen, gibt’s Schubhaft, und dann geht’s sofort zurück nach Afghanistan.«
    Hesmat hatte seinen Asylantrag gestellt, er hatte ihnen alles erklärt und ihnen gesagt, dass er sterben würde, wenn er zurückgehen müsste.
    Der Mann hatte genickt.
    »Weißt du«, hatte sein Onkel gesagt, »wie oft sie das täglich hören? Glaubst du vielleicht, die geben irgendwas auf unsere Geschichte?«
    Hesmat wollte ihm widersprechen, aber er hatte selbst gesehen, wie es hier ablief. Er fand keine Argumente, die er seinem Onkel in seinem Zorn entgegenschleudern konnte. So oft hatte sein Onkel den Mund aufgemacht und gelogen, diesmal aber hatte er recht. Sie würden sie wieder zurückschicken.
    Sie konnten hier in Traiskirchen warten, bis sie in ein anderes Nebenlager oder Flüchtlingsheim geschickt wurden, wo sie täglich auf das Todesurteil der »Götter« warten würden. Oder sie konnten abhauen. Sie konnten über die Grenze nach Italien
verschwinden, wo vielleicht alles einfacher war. Sie konnten nach Wien gehen und dort eine Zeit lang versteckt leben und Geld verdienen.
    Täglich kamen neue Flüchtlinge, neue Gesichter, neues Leid. Auch sie selbst hatten sich widerstandslos festnehmen lassen. Hesmat war nach der Überfahrt auf dem Floß vollkommen durchnässt mit Karim keine drei Kilometer weit gelaufen, als die Soldaten sie entdeckten. In ihrem Kleinbus trafen sie auf einen Teil der Gruppe, die vor ihren Augen mit den Schlauchbooten über den Fluss gesetzt war. Die Flüchtlinge waren am Ende und stanken, waren ausgemergelt und froren in ihren dünnen T-Shirts. Die Soldaten waren freundlich und sagten: »Willkommen in Österreich!«, bevor sie sie in den Bus steckten.
    In der ersten Unterkunft bekamen sie Tee, Brot mit Streichwurst, die jeder verschlang, Moslem oder nicht Moslem, Fleischesser oder nicht. Die Frauen erhielten Dinge, die sie für ihre Kinder brauchten: Windeln aus Plastik und Nahrung für die Kleinsten. Dann waren sie in den Bus gestiegen und stundenlang durch ein fremdes Land gefahren, dessen Häuser bunt erleuchtet waren. Es war ein Land voll geschmückter Häuser, die friedlich schlafend im Schnee lagen. »Weihnachten«, sagte sein Onkel, »sie feiern die Geburt Jesu.« Hesmat drückte seine Nase gegen die Scheibe und spähte nach den Lichterketten. Der ganze Bus drückte sich die Nasen an den Scheiben platt und starrte verwirrt hinaus in ein reiches Land voller Lichterketten.
    Doch als sie das Lager betraten, wussten sie sofort, dass niemand sie in diesem Land wollte. Sie fühlten sich wie Schwerverbrecher, als das wenige, was sie noch besaßen, durchsucht wurde und sie von einem Zimmer ins nächste geführt wurden. Unerwünscht in einem Land, von dem sie sich Wärme, Hoffnung und Verständnis erwartet hatten.

    Endlich waren sie in einem sicheren Land. Aber das Erste, was ihnen zugeflüstert wurde, war, dass sie bald zurückgeschickt würden. Viele brachten kein Wort heraus, als man sie vor einen Dolmetscher setzte und sie auf Befehl erzählen sollten. Die Angst stand in den Dutzenden Augen der Wartenden, die neben ihnen saßen. Augen, die Dinge gesehen hatten, die selbst Hesmat sich nicht vorstellen konnte.
    Die erfahreneren
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