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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Lagerbewohner boten ihnen ihre Hilfe gegen Geld an. Sie waren nicht besser als die Behörden, die über sie urteilten. Wer Geld hatte, dem erklärten sie die Tricks: die richtigen Worte, die sie benutzen mussten, die Geschichten, die sie erzählen mussten, um ihnen vielleicht Asyl zu garantieren. Wer nicht bezahlen konnte, blieb hilflos.
    »Frauen können mit ihrem Körper bezahlen«, sagte jemand, »auch Jungs wie du.«
    Hesmat wusste nicht, ob jemand diesen Preis wirklich zahlte, aber was hatten sie noch zu verlieren?
    Es waren Hunderte, manchmal schien es ihm, als wären es Tausende, die warteten. Viele hockten still, leise weinend, verängstigt in den Ecken. In der Nacht versuchten sich die Frauen vor den alteingesessenen Männern zu schützen, draußen patrouillierten Männer mit Hunden, während drinnen Tschetschenen mit Messern aufeinander losgingen. Sobald die Türen der Häuser geschlossen waren, ließ jeder seinen Ängsten, seinem Hass, seiner Wut freien Lauf. Niemand stellte sich ihnen entgegen, es gab keine Wärter, die die Wehrlosen schützten, keine Einzelzellen, in denen man sicher gewesen wäre.
    »Schlimmer als Gefängnis«, sagten viele. Immer wieder eskalierte die Gewalt.
    »Erst vor ein paar Wochen sollen sie einen umgebracht haben«, erzählte eine Frau.
    Aber am meisten litt Hesmat unter der Ungewissheit. Die
Formulare, die es gab, hatte er ausgefüllt, die Anträge, die man ihm vorgelegt hatte, gestellt. Jetzt konnten sie nur noch warten. Warten wie Hunderte, Tausende andere auch.
    Traiskirchen war eine eigene Welt. Eine schreckliche, gesetzlose Insel in einem Land, in dem überall die Weihnachtsketten leuchteten. Der kälteste Ort in einem Land, das angeblich für seine Gastfreundschaft bekannt war. Warum wurde er immer belogen? Warum konnte ihm nie jemand die Wahrheit sagen? Österreich war nicht warm, nicht offenherzig.
    »Es ist anders, als du denkst«, sagte sein Onkel. »Du kennst ja nichts, du kennst ja nur dieses verfluchte Lager.«
    Schließlich bekamen sie sogar etwas Geld und durften aus dem Lager. Sie fuhren nach Wien, um die Moldawier zu suchen, die sie nicht fanden, telefonierten mit einem Mann, der ihnen für 200 Dollar Zugkarten nach Italien besorgen wollte. Sie bewegten sich wie Geister zwischen den Holzhütten eines Weihnachtsmarkts, an denen die Österreicher in Wintermänteln ausgelassen heißen Alkohol tranken. Sie rochen nach Rauch, Alkohol und Erbrochenem und waren alles, was sein Großvater verachten würde. Als sie nach Traiskirchen zurückkamen, jagten Kinder Raketen in die Luft, die im Nachthimmel explodierten. Auf den Lichterketten ihrer Häuser lasen sie »Happy New Year«.
    Ihr neues Jahr begann mit der Erklärung, dass sie in den nächsten Tagen in andere Lager aufgeteilt würden. Die Häuser waren voll und jeden Tag kamen Dutzende Neue. Dutzende neue Geschichten, geschändete Mädchenkörper, leere Kinderaugen, ausgehungerte Mütter, ausgezehrte Väter. Hoffnungslose Menschen in einer hoffnungslos ungerechten Welt.
    Als die Busse vorfuhren, um sie in die neuen Unterkünfte zu bringen, saßen Hesmat und sein Onkel bereits im Zug nach Italien. Nichts würde sie nach Afghanistan zurückbringen. Nicht
das fehlende Geld, nicht die Mutlosigkeit, vor allem aber nicht ein Land, das sie nicht wollte und das nichts verstand.
    Hesmat und sein Onkel hatten das letzte Geld aus dem Gürtel gezogen.
    »Das reicht«, hatte der Mann gesagt. In Italien sollten sie sich an einen Bekannten wenden, der ihnen Arbeit verschaffen würde. »In Italien ist es leichter, unterzutauchen«, sagte der Mann, »dort gibt’s genug für euch beide zu tun.«
    Hesmat fragte nicht, was das für Arbeit sein würde. Was zählte, war das Geld. Hier konnten sie nicht bleiben, die Mühlen der Behörden mahlten langsam, aber sie mahlten ständig und zerquetschten irgendwann alles und jeden.
    »Hier finden sie jeden«, hatte der Mann gesagt, »ihr braucht euch nichts vorzumachen, sie sind nicht dumm. - Es ist gute Arbeit für ehrliche Leute«, ergänzte er, »habt keine Angst, möge Gott euch schützen.«
    Vom Zugfenster aus sah Hesmat die tief verschneiten Berge, die im Mondlicht strahlten wie ihre Berge zu Hause. Es war nicht der Hindukusch, aber es waren Berge und ihre Schönheit beruhigte ihn für den Moment.
    »Bis Innsbruck habt ihr keine Probleme«, hatte der Mann gesagt. Danach mussten sie sich verstecken. Die Grenze zu Italien sei gut bewacht und der Zug voll von Beamten und Polizisten. Während
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