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Hesmats Flucht

Titel: Hesmats Flucht
Autoren: Wolfgang Boehmer
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Moldawien. Den Rest konnte Hesmat zunächst keiner Nation zuordnen.
    Hesmat lag auf seinem Lager, betrachtete die neuen Kleider, die er bekommen hatte, und dachte darüber nach, was er in den letzten Tagen erfahren hatte. Zum ersten Mal hatte er von den Folgen der Anschläge in Amerika gehört. Sie nannten es den 11. September. Einer der ungarischen Aufseher hatte ihm in schlechtem Russisch von den Plänen erzählt: »Sie werden nach Afghanistan gehen, sie sagen, Bin Laden sei an allem schuld«, erzählte er, »und die Taliban.«
    Hesmat hörte gespannt zu. Es war eine verrückte Welt. Jahrelang hatte die Welt weggeschaut, hatte sich niemand um die Toten und die lebenden Toten in seinem Land gekümmert.
Jetzt, wo ein Flieger in ein Haus in Amerika gestürzt war, wollten sie den Taliban plötzlich Beine machen.
    Der Aufseher erklärte ihm, was die Zeitungen schrieben, aber Hesmat verstand nichts von Terrorgruppen und Finanzverbindungen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Männer seines Glaubens ein Flugzeug entführen und unschuldige Menschen in einem fernen Land töten konnten. Er kannte den Hass der Taliban auf alles Gottlose, Westliche. Aber das waren Ideen und Hirngespinste verrückter Männer am Ende der Welt. Er konnte nicht glauben, dass die Folge davon jetzt war, dass endlich Hilfe gegen die Taliban nach Afghanistan kommen würde.
    Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und starrte Löcher in die weiß getünchte Saaldecke, als er seinen Onkel draußen vor dem Fenster auflachen hörte. Karim hatte die afghanische Familie mit den drei Kindern entdeckt, die gemeinsam mit ihnen im Versteck in Kiew ausgeharrt hatte und die jetzt auch hier gelandet war. Sie waren beim Abmarsch getrennt worden und hatten dieselbe Enttäuschung hinter sich wie sie.
    »Ist alles nicht so schlimm«, versuchte sein Onkel die Familie zu trösten, als sie vom Lkw der Polizei stiegen. »Seht her, uns geht es gut hier.«
    Sein Onkel hatte recht. Es gab Hoffnung. Hoffnung, die die Männer schürten, die bereits seit Wochen im Lager waren.
    »Ihr müsst über die Slowakei«, sagten sie, »dann könnt ihr es auch ohne Schlepper schaffen. Die Grenze nach Österreich ist dicht, da geht nichts, aber über die Slowakei …«
    Immer wieder waren Betreuer gekommen und wollten mit Hesmat sprechen.
    »Sie wollen uns nur ausspionieren«, sagte sein Onkel, »sei vorsichtig, was du sagst.«
    Sie waren freundlich, aber fragten ständig nach seinen Erlebnissen
und wollten Dinge wissen, die sie nicht interessieren konnten. Sie sprachen mit ihm wie mit einem kranken Mann, aber er brauchte keinen Arzt, er wollte seine Ruhe.
    »Sie sollen sich ihre Geschichten selbst suchen«, sagte er zu seinem Onkel.
    Trotzdem waren die Fremden nett. Einer von ihnen brachte ihm sogar eine Karte mit, auf der er endlich sehen konnte, wo er die letzten Monate verbracht hatte. Gemeinsam betasteten sie darauf die Grenze zu Österreich.
    Das Flüchtlingslager in Ungarn schien ein Sammelpunkt für aufgegriffene Flüchtlinge zu sein. Im Lauf der ersten Woche kamen immer neue, aber auch altbekannte Gesichter ins Lager. Menschen, die Hesmat im Versteck in Kiew, aber auch schon vorher auf seiner Flucht getroffen hatte. Die meisten wurden erst an der Grenze nach Österreich geschnappt. Mit ihnen kamen neue Fluchtpläne ins Lager. Jeder gescheiterte Versuch war ein wichtiger Hinweis für die anderen. Mit jeder Geschichte konnten sie eine weitere Möglichkeit für den Grenzübertritt ausschließen. Mit der Zeit hatten sie eine Karte entworfen, die jedem zeigte, wo ein Versuch sinnlos war. Mit jedem Tag und jeder Geschichte wurde die Karte voller, bis klar wurde, dass eine Flucht von hier aus tatsächlich kaum Aussicht auf Erfolg hatte.
    Gerüchte waren die Nahrung, die die Flüchtlinge im Lager am liebsten verspeisten. Sie kauten auf den Geschichten herum, die erzählt wurden, schmückten sie aus, erzählten sie immer neu weiter. Bald konnte niemand mehr sagen, was bloße Erfindung und was Tatsache war. Als der Novemberwind die ersten Schneeflocken zwischen die Quartiere trieb, träumten sie, eingewickelt in saubere Decken, von der Flucht.
    »Wir müssen weiter«, sagte sein Onkel, »wenn wir zu lange bleiben, werden wir faul und bequem.« Er rückte näher an
seinen Neffen heran und flüsterte ihm ins Ohr. »Sie schicken alle zurück, die Ende des Jahres noch da sind. Wer dann noch nicht in Österreich ist, muss zurück in die Ukraine. Wir müssen weiter! Wenn wir noch lange warten,
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