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Herzschlagzeilen

Herzschlagzeilen

Titel: Herzschlagzeilen
Autoren: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
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noch am Sonntag den Hausmann spielen und alles kontrollieren?
    Seit Papa diese Stelle als Streetworker angenommen hat, steht mein Leben total auf dem Kopf. Wir mussten umziehen, weil er jetzt weniger verdient als vorher. Unsere alte Wohnung war größer und einfach viel zu teuer. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, haben sich auch Papas Arbeitszeiten nach hinten verschoben. Er fängt jetzt fast immer erst am Abend an zu arbeiten und ist dann bis tief in die Nacht unterwegs. Da meine Mutter neuerdings in diesem Buchladen arbeitet, sehen sich meine Eltern kaum noch. Mag sein, dass es ihnen gut gefällt, sich so aus dem Weg zu gehen. Aber ich finde es ätzend, weil jetzt eigentlich ständig einer von ihnen zu Hause ist.
    Ich gebe zu, es gab mal eine Zeit, da war ich stolz darauf, dass mein Vater keinen so normalen Beruf hat wie die Väter meiner Mitschüler. Bevor er die Stelle als Streetworker annahm, hat er als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum gearbeitet und nebenher eine Zirkusschule für Kinder geleitet, um sie – wie er sagte – von der Straße oder der Flimmerkiste wegzuholen. Mein Vater kann Einrad fahren und jonglieren und Feuer spucken. Ich hatte die tollsten Kindergeburtstage in der ganzen Klasse.
    Das mit dem Stolzsein änderte sich schlagartig an meinem dreizehnten Geburtstag. Es war meine erste richtige Party. Colin hatte Zimmerverbot, Kiki auch, und ich hatte zum ersten Mal nicht nur meine Freundinnen, sondern auch ein paar Jungs eingeladen.
    Wir legten langsame Musik auf, spielten Flaschendrehen und aßen Pizza vom Pizzadienst, die Mama uns netterweise spendiert hatte. In meinem Zimmer war es so schummrig, dass man kaum noch sehen konnte, auf wen die Flasche eigentlich zeigte. Irgendwann rückte Thorsten mir immer dichter auf die Pelle, aber immerhin war ich gerade 13 geworden. Da musste schon ein bisschen mehr passieren als auf einem normalen Kindergeburtstag, auch wenn ich damals noch nicht so wirklich wusste, was ich mir unter
ein bisschen mehr
eigentlich vorstellte.
    Thorsten hatte mich auf mein Bett gezogen und wir balancierten gemeinsam eine Pizzaschachtel auf unseren Knien. Plötzlich wanderte Thorstens Hand unter die Schachtel und schob sich zwischen meine Beine, die ich total erschrocken zusammenpresste.
    Was machte er da? War ihm ein Stück Pizza runtergerutscht? Mir wurde ganz heiß vor Aufregung. Was aber vielleicht auch daran lag, dass ich gerade auf ein Stück Peperoniwurst gebissen hatte. Jedenfalls ging in dem Moment zum ersten Mal die Tür auf, jemand knipste das Licht an, und Thorsten zog seine Hand so schnell unter der Schachtel hervor, dass unsere Pizza in hohem Bogen auf dem Fußboden landete. Interessiert stellte ich fest, dass Thorstens Gesicht binnen Sekunden die gleiche Farbe annahm wie meine in Krepppapier eingewickelte Nachttischlampe.
    Dann bemerkte ich den Clown, der in meiner Zimmertür stand und verwirrt von einem zum anderen schaute. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.
    Auch jetzt, als Streetworker, geht mein Vater manchmal noch zu seiner alten Zirkusschule und hilft dort aus. Aber als Clown habe ich ihn seitdem nie wieder gesehen. Ich glaube, das Lachen ist ihm in seinem neuen Job gründlich vergangen. Im Grunde macht er nichts anderes, als nachts mit einem Partner durch die Straßen zu wandern und nach Menschen zu suchen, die sozusagen vom rechten Weg abgekommen sind. Betrunkene, Kiffer, Leute, die anderen in den Vorgarten pinkeln und ähnliche reizende Zeitgenossen. Heute wünsche ich mir oft, mein Vater hätte auch so einen Beruf wie die Väter meiner Klassenkameraden. Die haben Berufe, die man kaum aussprechen kann. Sie sind Cash Relation Officer oder Key Account Manager oder Solution Manager oder wenigstens Listbroker oder Vision Clearance Engineer oder sonst irgendetwas Cooles.
    Papa ist neuerdings gegen fast alles, was cool ist. Facebook zum Beispiel.
    Ich öffne mein Blog und klicke auf
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I ch greife nach meiner Gabel und steche sie mit so viel Schwung in ein Stück Tomate, dass es spritzt.
    »Aua!« Colin neben mir zuckt zusammen und verzieht das Gesicht. »He, die Tomate war schon tot!«
    Ich beachte ihn nicht und stopfe mir das Gemüse in den Mund. Solange ich was zwischen den Zähnen habe, kann ich nicht sprechen, und solange ich nicht sprechen kann, ist meine kleine Schwester einigermaßen sicher vor mir.
    Weil Mama und Kiki den halben Sonntag im Buchladen verbracht haben, hat Papa sich um das Abendessen
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