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Herzflimmern

Herzflimmern

Titel: Herzflimmern
Autoren: Barbara Wood
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Ich möchte in die Forschung.«
    Ruth nickte. Sie hatte verstanden. In einem Labor sind Persönlichkeit und Aussehen nicht von Bedeutung; da kommt es nur auf Intelligenz und Hingabe an.
    »Und du, Ruth?« fragte Sondra. »Was willst du mal machen?«
    »Allgemeinmedizin. Ich möchte in Seattle eine Praxis aufmachen. Du?«
    »Ich möchte raus in die Welt«, antwortete Sondra. »Das drängt mich eigentlich schon mein Leben lang – ich kann das Gefühl nicht beschreiben. Seit ich denken kann, hab ich eigentlich immer den Drang gehabt, rauszukommen und zu sehen, was hinter der nächsten Ecke wartet.« Das Kerzenlicht schimmerte in ihren topasbraunen Augen. »Ich weiß nicht, warum meine richtige Mutter mich weggegeben hat. Ich weiß {29} nicht, ob sie vielleicht bei meiner Geburt gestorben ist oder ob sie mich einfach nicht bei sich behalten konnte. Manchmal quälen mich diese Gedanken. Ich bin 1946 geboren, damals galten Mischehen ja noch als etwas Unerhörtes. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es gewesen sein mag. Ob sie sich vielleicht in meinen Vater verliebte und dafür von ihrer Familie ausgestoßen wurde; ob die beiden zusammengeblieben sind, oder ob er sie verlassen hat. Ich weiß nicht einmal, ob meine Mutter oder mein Vater schwarz war. Nach meiner Assistenzzeit möchte ich nach Afrika gehen. Um meine andere Hälfte kennenzulernen.«
    Der Wind draußen hatte aufgefrischt und rüttelte jetzt an den Fensterscheiben, als wolle er eingelassen werden. Die drei am Tisch schwiegen, nachdenklich, den Blick nach innen gerichtet. Vor wenigen Tagen waren sie einander noch fremd gewesen, hatten nichts voneinander gewußt; nun würden sie ein Stück Wegs gemeinsam gehen, in eine unbekannte Zukunft, an die sie große Erwartungen, vor der sie aber auch ein wenig Furcht hatten.
    Ruth räusperte sich und hob ihren Becher. »Also dann, auf uns! Auf die drei zukünftigen Ärztinnen.«

4
    In das Steinsims über dem zweiflügeligen Portal der Mariposa Hall waren die Worte
mortui vivos docent
eingehauen. Oft waren die Studienanfänger in den vergangenen sechs Wochen unter ihnen hindurchgegangen, doch erst an diesem Tag, an dem sie zum erstenmal sezieren sollten, wurde ihnen die Bedeutung der Worte voll bewußt: Die Toten lehren die Lebenden.
    Ruth setzte sich wie immer in die oberste Reihe der Anatomie und zog, da sie früh daran war, Guytons
Physiologie des Menschen
aus ihrem Beutel. Seit dem ersten Tag am College, als Dekan Hoskins mit solcher Eindringlichkeit den hippokratischen Eid gesprochen hatte, las und lernte Ruth mit wilder Entschlossenheit und benützte jede freie Minute, um zu büffeln. Während die anderen Studenten gemächlich in den Saal schlenderten und ihre Plätze einnahmen, hockte Ruth über ihrem Buch und versuchte, die zwanzig Aminosäuren auswendig zu lernen, aus denen sich alle bekannten Eiweiße zusammensetzten.
    »Hallo!«
    Ruth blickte auf, als Adrienne, eine hübsche Frau mit rotem Haar, sich neben sie setzte. Adrienne war wie sie im ersten Jahr und war mit einem Studenten verheiratet, der kurz vor dem Examen stand.
    {30}
    »Ich schwitze Blut«, sagte Adrienne. »Mein Mann hat zwar versucht, mich seelisch auf diese Seziererei vorzubereiten, aber mir graut trotzdem. Ich hab noch nie im Leben einen Toten gesehen.«
    »Ach, das wird schon«, meinte Ruth, pragmatisch wie immer. »Man muß sich nur sagen, daß es nicht anders geht, dann klappt’s schon.«
    »Er hat mir erzählt«, fuhr Adrienne mit gesenkter Stimme fort, »daß einer der Anatomiedozenten unheimlich frauenfeindlich ist. Wenn eine von uns diesen Kerl erwischt, Moreno heißt er, blüht ihr einiges.«
    »Wieso?«
    »Er führt jedes Jahr das gleiche Theater auf. Man geht nach dieser Vorlesung ins Labor, und garantiert fehlt auf einem seiner Tische eine Leiche. Immer ist es ein Tisch, der einer Frau zugeteilt ist. Er wählt dann mit großem Brimborium und scheinbar völlig unparteiisch jemanden aus, der ins Souterrain gehen und den fehlenden Leichnam holen muß. Aber es ist
unweigerlich
eine Frau.«
    Ruth starrte sie ungläubig an. »Ach, ich kann mir nicht vorstellen –«
    »Doch, es ist wahr. Mein Mann hat mir erzählt, daß damals, als er das erstemal im Labor war, eine Frau runtergeschickt wurde. Sie ist überhaupt nicht mehr zurückgekommen.«
    »Wieso? Was war mit ihr?«
    »Als sie das Becken sah, wo die Leichen drin rumschwimmen, kriegte sie einen totalen Zusammenbruch und rannte weinend ins Wohnheim.«
    »Hat sie danach
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