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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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Kopf hatte er sich ein rosafarbenes Tuch gewickelt, wie es bei älteren Shan früher üblich gewesen war. Ernst und feierlich blickte er in die Kamera.
    Mich selbst erkannte ich kaum wieder. Beglückt von den aufregendsten Tagen meines Lebens, beseelt von der schönsten Liebesgeschichte, die ich je hören würde, der Geschichte meines Vaters, strahlte ich entspannt, fast ein wenig entrückt, in Richtung Fotograf. Als ich Freunden das Bild zeigte, wollten sie nicht glauben, dass ich das war. Als Michael es zum ersten Mal sah, fragte er, ob ich dort völlig bekifft in Indien neben meinem Guru stünde. Später hatte er sich über meinen Gesichtsausdruck oft lustig gemacht und behauptet, ich hätte vor der Aufnahme zu tief an einer burmesischen Opiumpfeife gezogen.
    Zehn Jahre waren seither vergangen. Zehn Jahre, in denen ich mir immer wieder fest vorgenommen hatte zurückzukehren, das Grab meines Vaters zu besuchen, Zeit mit U Ba zu verbringen. Ich hatte die Reise von einem Jahr auf das andere verschoben. Zweimal hatte ich Flüge reserviert und im letzten Moment wieder storniert, weil etwas Wichtigeres dazwischen gekommen war. Etwas so Wichtiges, dass ich heute nicht einmal mehr sagen konnte was es gewesen war. Irgendwann hatte der Alltag die Intensität der Erinnerungen verblassen lassen, der Wunsch verlor seine Dringlichkeit und wurde zu einem vagen Vorhaben in einer unbestimmten Zukunft.
    Ich wusste nicht mehr, wann ich U Ba das letzte Mal ein paar Zeilen geschickt hatte. Er bat um Verzeihung für sein langes Schweigen. Ich war es, die ihm eine Antwort auf seinen letzten Brief schuldig geblieben war. Vermutlich auch auf den vorletzten, ich erinnerte mich nicht. In den ersten Jahren nach meiner Rückkehr hatten wir uns regelmäßig geschrieben, mit der Zeit nahm die Häufigkeit unserer Korrespondenz jedoch ab. Er hatte mir alle zwei Jahre eines seiner restaurierten Bücher geschickt, von denen ich jedoch, ich musste es mir eingestehen, keines je ganz gelesen hatte. Sie waren, trotz seiner Bemühungen, von den Jahren gezeichnet, vergilbt, verstaubt, verschmutzt. Wenn ich sie in die Hand nahm, wusch ich mir an schließend die Finger. Er hatte sie mit liebevollen Widmungen versehen, und jedes von ihnen lag zunächst neben meinem Bett, bald dar auf im Wohnzimmer, bis es schließlich in irgendeiner Kiste verschwand.
    Ich hatte ihm einige Male durch einen Kontakt in der amerikanischen Botschaft in Rangun Geld zukommen lassen, insgesamt mögen es an die zehntausend Dollar gewesen sein. In seinem nächsten Brief bestätigte er den Erhalt jeweils eher beiläufig, ohne sich in vielen Worten zu bedanken oder zu erklären, was er mit dem, für burmesische Verhältnisse, vielen Geld machte, was mich vermuten ließ, dass ihm meine Geldgeschenke eher unangenehm waren. Irgendwann ließ ich es sein, und er kam auch nie wieder darauf zu sprechen. Ich hatte ihn mehrmals eingeladen, mich in New York zu besuchen, und erklärt, mich um alle Formalitäten zu kümmern und selbstver ständlich alle Kosten zu übernehmen. Am Anfang hatte er mich vertröstet und dann ein ums andere Mal aus Gründen, die ich nicht verstand, höflich, aber sehr bestimmt abgelehnt.
    Ich fragte mich, warum ich es in all den Jahren nicht geschafft hatte, ihn wiederzusehen, obgleich ich bei meiner Abreise uns beiden versprochen hatte, in wenigen Monaten zurückzukehren. Wie hatte er, dem ich so viel verdankte, wieder aus meinem Leben entschwinden können? Warum schieben wir das uns wirklich Wichtige so oft auf? Ich hatte darauf keine Antwort. In den kommenden Tagen würde ich ihm ausführlich schreiben.
    Die Erinnerungen an Burma hatten mich abgelenkt und beruhigt. Ich hatte Mulligan noch aus dem Taxi eine E-Mail geschrieben, mich mit akuten Kreislaufproblemen entschuldigt und versprochen, ihm alles Weitere am Montag zu erklären. Ich überlegte, ob ich den Nachmittag nutzen sollte, um meine Wohnung aufzuräumen. Sie sah schlimm aus. Die Putzfrau war seit zwei Wochen krank, und in den Ecken hatte sich der Staub gesammelt. Im Schlafzimmer standen noch immer mehrere unausgepackte Kartons, an den Wänden lehnten Bilder, die darauf warteten, aufgehängt zu werden, obwohl schon vier Monate vergangen waren, seit Michael und ich uns getrennt hatten und ich zurück in mein altes Apartment gezogen war. Meine Freundin Amy behauptete, der Zustand meiner Wohnung spiegele meine Weigerung, die Trennung von Michael zu akzeptieren. Das war Unsinn. Wenn die Unordnung etwas verriet,
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