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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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Simon & Koons, unser bester Anwalt, aber von Tränen, groß wie Erdnüsse, verstand er nichts. Von Buchstaben als Geschenk auch nicht. Seine Handschrift war unleserlich.
    Die anderen Kollegen warteten bereits. Es roch nach frischem Kaffee, Marc steckte sich den letzten Bissen eines Muffins in den Mund und grinste mir zu. Wir hatten eine Wette laufen, ob es ihm gelingen würde, bis Weihnachten fünf Kilo abzunehmen. Es wurde ruhiger, als wir uns setzten. In der kommenden Woche würden wir eine Klageschrift für unseren wichtigsten Mandanten einreichen müssen. Eine komplizierte Geschichte. Copyright-Verletzungen, Raubkopien aus Amerika und China, mutmaßliche Wirtschaftsspionage. Internationales Wirtschaftsrecht. Schadenssumme mindestens hundert Millionen Dollar. Die Zeit war knapp.
    Mulligan versenkte nach und nach vier Zuckerwürfel in seinem Kaffee, rührte in Ruhe um und wartete, bis es völlig still geworden war. Er sprach leise, und doch drang seine tiefe Stimme bis in den letzten Winkel des Raums. Mir aber fiel es schon nach wenigen Sätzen schwer, ihm zu folgen. Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, doch irgendetwas zog mich weg. Fort aus diesem Raum. Fort aus dieser Welt von Verdächtigungen, Beschuldigungen, Vorwürfen und Gegenvorwürfen.
    Ich dachte an meinen Bruder in Burma. Er war mir plötzlich so gegenwärtig, als hätte er mir nicht einen Brief geschrieben, sondern wäre persönlich gekommen. Ich dachte an unsere erste Begegnung in dem heruntergekommenen Teehaus in Kalaw. Wie er mich angestarrt hatte, plötzlich aufgestanden und auf mich zugekommen war. In seinem vergilbten weißen Oberhemd, seinem verwaschenen Longy, den ausgeleierten Gummisandalen. Mein Halbbruder, von dem ich nichts gewusst, nicht einmal etwas geahnt hatte. Für einen verarmten Alten hatte ich ihn gehalten, der mich anbetteln wollte. Ich erinnerte mich, wie er sich zu mir setzte, um mir eine Frage zu stellen. »Glauben Sie an die Liebe, Julia?« Noch heute habe ich den Klang seiner Worte im Ohr. Als wäre die Zeit für diese Frage stehen geblieben. Ich hatte laut lachen müssen – und er hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
    Während Mulligan etwas vom »Wert des geistigen Eigentums« erzählte, fielen mir seine ersten Sätze wieder ein. Wort für Wort. »Ich meine es ernst«, war U Ba nach meinem Lachen unbeirrt fortgefahren. »Ich spreche von der Liebe, die Blinde zu Sehenden macht. Von der Liebe, die stärker ist als die Angst. Ich spreche von der Liebe, die dem Leben einen Sinn einhaucht …«
    Nein, hatte ich ihm irgendwann geantwortet. Nein, daran glaubte ich nicht.
    In den folgenden Tagen war ich von ihm eines Besseren belehrt worden. Und jetzt? Fast zehn Jahre später? Glaubte ich noch an eine Kraft, die Blinde zu Sehenden macht? Würde ich in diesem Kreis jemanden überzeugen können, dass der Mensch über Eigensucht triumphieren kann? Sie würden mich auslachen.
    Mulligan sprach vom »wichtigsten Fall des Jahres … deshalb müssen wir …« Ich bemühte mich noch einmal mit aller Kraft um Konzentration, doch meine Gedanken drifteten fort, willenlos wie ein Stück Holz, mit dem die Wellen spielen.
    »Julia.« Mulligan zerrte mich zurück nach Manhattan. »Du bist dran.«
    Ich nickte ihm zu, warf einen hilflosen Blick auf meine Notizen, wollte mit ein paar Standardsätzen beginnen, als mich ein zaghaftes Flüstern unterbrach.
    Ich stockte.
    Wer bist du?
    Hingehaucht und doch nicht zu überhören.
    Wer bist du?
    Eine Frauenstimme. Immer noch leise, aber klar und deutlich.
    Ich schaute über meine rechte Schulter, um zu sehen, wer mich mit so einer Frage ausgerechnet in diesem Moment unterbrach. Niemand.
    Wo mochte sie sonst herkommen?
    Wer bist du?
    Ich drehte mich unwillkürlich nach links. Nichts. Ein Flüstern aus dem Nirgendwo.
    Was wollen die Männer von dir?
    Gespannte Stille um mich herum. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mir wurde warm. Ich schwieg beklommen und hielt die Augen gesenkt. Jemand räusperte sich.
    Nimm dich in Acht vor ihnen.
    »Julia?«
    Kein Wort. Nicht eins. Atemnot. Woher kam diese Stimme? Wer sprach zu mir? Was wollte sie? Warum sollte ich mich vor meinen Kollegen hüten?
    »Du kannst beginnen. Wir sind ganz Ohr.« Mulligans wachsende Ungeduld. Erstes Hüsteln.
    Du musst ganz vorsichtig sein. Pass auf, was du sagst. Pass auf, wen du anschaust.
    Ich hob den Kopf und ließ meinen Blick vorsichtig kreisen. Das unruhige Wippen mancher Oberkörper. Marcs besorgte Miene, er
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