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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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gern bunt, machte ungern Pläne, liebte Überraschungen, war schlagfertig und nur sehr schwer aus der Ruhe zu bringen. Sie meditierte, war Buddhistin, konsultierte trotzdem regelmäßig Astrologen und war so abergläubisch, dass es mich manchmal wahnsinnig machte. Sie trug immer etwas Rotes am Körper. Stieg im Fahrstuhl niemals im neunten Stock aus. Weigerte sich, Taxis zu nehmen, deren Kennzeichen auf sieben endete.
    Sie war der einzige Mensch, dem ich die Geschichte meines Vaters erzählte. Und sie hat mir geglaubt. Wort für Wort, ohne Fragen zu stellen. Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass es Menschen gibt, die Herzen hören können.
    Im Gegensatz zu meiner Mutter und meinem Bruder, die nichts hatten hören wollen von meiner Reise. Sie interessierte ausschließlich, ob unser Vater noch am Leben war. Als ich das verneinte und berichten wollte, was ich in Burma erlebt hatte und warum er zum Sterben in das Land seiner Geburt zurückgekehrt war, weigerten sie sich, mir zuzuhören. Es war der Beginn unserer Entfremdung. Meine Suche nach meinem Vater hatte die Familie entzweit. Meine Mutter und mein Bruder auf der einen Seite, mein Vater und ich auf der anderen. Amy war überzeugt, dass diese Teilung schon immer bestanden hatte und ich sie erst spät bemerkt oder vorher nicht hatte wahrhaben wollen. Wahrscheinlich hatte sie recht. Vor fünf Jahren war meine Mutter in die Nähe meines Bruders nach San Francisco gezogen, und wir sahen uns nur noch ein-, zweimal im Jahr.
    Amy hingegen gab keine Ruhe. Wann ich endlich U Ba besuche, wollte sie immer mal wieder wissen. Was mit dem Erbe meines Vaters geschehen sei, dem Glauben an die magische Kraft der Liebe? Ob er mir in New York wieder verloren gegangen sei? Warum ich nicht besser darauf achtgegeben hätte? Ob ich nicht danach suchen wolle? Fragen, denen ich auswich, weil ich darauf keine Antworten hatte; was sie nur ermunterte, sie mir hin und wieder zu stellen.
    Amy studierte, im Gegensatz zu mir, ohne großen Ehrgeiz. Eigentlich hatte sie Malerin werden wollen und Jura nur gewählt auf Druck von oder aus Liebe zu ihren Eltern, die Begründung wechselte, je nach ihrer Stimmung. Trotzdem gehörte sie zu den Besten unseres Jahrgangs. Als ihr Vater vier Wochen vor den letzten Prüfungen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, verschwand Amy für zwei Monate nach Hongkong. Zurück in New York, erklärte sie ihr Studium für beendet. Nicht einen Tag mehr wollte sie in der Universität verbringen. Das Leben sei zu kurz für Umwege. Wer einen Traum habe, müsse ihn leben.
    Seither schlug sie sich mit Gelegenheitsjobs als Bühnenmalerin am Broadway durch und lehnte es ab, ihre Bilder einem Galeristen auch nur zu zeigen. Sie war weder an Ausstellungen noch am Verkauf ihrer Werke interessiert. Sie male für sich, nicht für andere. Amy war der freieste Mensch, den ich kannte.
    Die Tür zu ihrem Studio war angelehnt. Sie hasste verschlossene Türen, wie sie überhaupt alle Schlösser verabscheute und fest davon überzeugt war, dass Menschen, die fortwährend damit beschäftigt waren, etwas ab- oder einzuschließen, irgendwann sich selbst verschlössen. Sie weigerte sich sogar, ihr Fahrrad irgendwo anzuketten. Seltsamerweise war sie die Einzige aus meinem Freundeskreis, der in New York noch nie eines gestohlen worden war.
    Sie saß auf einem rollenden Hocker vor einer Leinwand, die sie mit einem dunklen Orange bestrich. Ihre rot gefärbten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug ein viel zu großes, weißes T-Shirt voller Farbflecken und eine graue, ausgewaschene Jogginghose, ihre Arbeitskleidung. Es roch nach frischer Farbe und Lacken, der Boden war mit bunten Klecksen übersät, an den Wänden und Staffeleien lehnten Bilder, viele von ihnen in verschiedenen Rottönen. Amy behauptete, sie sei unglücklicherweise in ihrer Barnett- Newman-Phase stecken geblieben, statt Streifen malte sie Kreise, und wenn sie sich daraus nicht bald befreie, könne ich sie demnächst Bernadette Neumann nennen. Aus ihrer kleinen Anlage erklang Jack Johnson.
    Sie hörte meine Schritte auf den Holzbohlen und drehte sich um. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen schauten mich überrascht an.
    »Wie siehst du denn aus?«
    Ich ließ mich in einen alten Sessel fallen, meine Hände und Füße waren eiskalt. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Es war, als fiele in diesen Sekunden die Anspannung der vergangenen Stunden von mir ab. Sie blickte mich mit
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