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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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unbekannten Mann zu folgen, und fortwährend einen Namen gerufen, den niemand im Ort zuvor gehört hatte. Als der junge Mann sich, erstaunt über den Lärm hinter seinem Rücken, umdrehte, trafen sich ihre Blicke, die Frau erstarrte und sank tot zu Boden. Als hätte sie ein Blitz erschlagen an diesem klaren, wolkenlosen Tag. Niemand fand eine Erklärung dafür. Ihre Schwester, mit der sie seit Jahren am Rande unseres Ortes zurückgezogen lebte, ist untröstlich. Freunde hatten die beiden offenbar wenige, und auch die Nachbarn wissen von nichts, sehr ungewöhnlich, möchte ich meinen, die wissen sonst immer alles. Der Vorfall beherrscht seither die Gespräche in unserer kleinen Stadt, in den Teehäusern und auf dem Markt. Manche Menschen behaupten, der junge Mann besitze magische Kräfte und habe die Frau mit seinen Blicken getötet. Der arme Kerl bestreitet dies natürlich und beteuert seine Unschuld. Nun ist er erst einmal zu seiner Tante nach Taunggyi geflüchtet.
    Und Du, meine liebe Schwester? Sind die Hochzeitspläne, die Du in Deinem letzten Brief so zaghaft angedeutet hast, von Dir und Herrn Michael weiter gediehen, oder komme ich mit meiner Frage womöglich zu spät und Ihr habt bereits geheiratet? In dem Fall bleibt mir nur, Euch von Herzen alles Gute zu wünschen. Ich habe die wenigen Jahre, die mir mit meiner Frau vergönnt gewesen waren, immer als großes, ja vielleicht größtes Glück empfunden.
    Nun ist mein Brief viel länger geworden, als es meine Absicht war, die Geschwätzigkeit des Alters, fürchte ich und hoffe, dass ich nicht allzu viel Deiner Zeit in Anspruch genommen habe. Ich werde schließen, die Dämmerung ist angebrochen, und um die Elektrizität war es in Kalaw in den vergangenen Wochen nicht gut bestellt. Meine Glühbirne unter der Decke flackert so heftig, als wolle sie mir geheime Signale senden. Ich vermute jedoch, sie kündigt nur einen weiteren Stromausfall an.
    Julia, meine Liebe, mögen die Sterne, möge das Leben, möge das Schicksal Dir wohlgesinnt sein. Ich denke an Dich, ich trage Dich in meinem Herzen, pass auf Dich auf.
    In tiefer Verbundenheit
    Dein
    U Ba
    Ich legte den Brief zur Seite. Die Angst vor einer Rückkehr der Stimme hatte nachgelassen, stattdessen überkam mich das Gefühl einer großen Vertrautheit, verbunden mit Sehnsucht und einer tiefen Melancholie. Wie gern hätte ich meinem Bruder jetzt gegenübergesessen. Ich erinnerte mich an seine altmodische Art sich auszudrücken, seine Angewohnheit, sich ohne Grund ständig für irgendetwas zu entschuldigen. Seine Höflichkeit und Bescheidenheit, die mich so gerührt hatten. Vor meinen Augen tauchte seine kleine, auf Stelzen stehende Hütte aus schwarzem Teak auf, das grunzende, im Dreck wühlende Schwein, die Hühner im Hof, der abgewetzte Ledersessel, auf dessen Sitzkissen sich die Sprungfedern abzeichneten, ein Sofa mit verschlissenem Bezug, auf dem ich mehrere Nächte verbracht hatte. Mittendrin ein Bienenschwarm, der sich bei ihm eingenistet hatte und dessen Honig er nicht anrührte, weil er nichts benutzen wollte, was ihm nicht gehörte.
    Ich sah ihn vor mir sitzen, zwischen zwei Petroleumlampen tief über seinen Tisch gebeugt, umgeben von Büchern. Sie standen in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Sie lagen in Stapeln auf den Holzbohlen und türmten sich auf einem zweiten Sofa. Ihre Seiten sahen aus wie Lochkarten. Auf dem Tisch lagen verschiedene Pinzetten, Scheren, dazwischen zwei kleine Gefäße, eins mit weißem, zähem Klebstoff, das an dere voller winziger Papierschnipsel. Stundenlang hatte ich zu geschaut, wie er mit einer der Pinzetten einen Schnipsel nahm, ihn in die Klebe tunkte, auf eines der Löcher legte, um dann, sobald er festklebte, den fehlenden Buchstaben mit einem Stift nachzuziehen. So hatte er über die Jahre Dutzende von Büchern restauriert.
    Das Leben meines Bruders, das so gar nichts mit dem meinen zu tun und mich doch so tief berührt hatte.
    Mein Blick fiel auf das Regal, in dem die Erinnerungsstücke meiner Burmareise standen, halb verdeckt von Büchern und Zeitschriften. Ein holzgeschnitzter Buddha, das Geschenk meines Bruders. Eine kleine, verstaubte Lackdose, verziert mit Elefanten und Äffchen. Ein Foto von U Ba und mir, das wir kurz vor meiner Abreise in Kalaw gemacht hatten. Ich überragte ihn um mehr als einen Kopf. Er trug einen neuen, grün-schwarzen Longy, ein weißes Hemd, das er selbst am Abend zuvor noch gewaschen hatte, damit es auch ja sauber war, um den
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