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Herzenstimmen

Herzenstimmen

Titel: Herzenstimmen
Autoren: J Sendker
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egal wo er lag.
    Wann beginnt Leben? Mit dem Akt der Befruchtung? Bei der Geburt? Irgendwann dazwischen. Aber wann?
    Hatte sie getötet? Oder den Tod zumindest in Kauf genommen? Billigend? Leichtfertig? Oder war es eine Willkür der Natur gewesen? Schicksal. Wer hatte darauf eine Antwort? Wer wollte sich anmaßen, hier der Richter zu sein?
    Neun Wochen alt. Groß wie ein Streichholz. Natürlich nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.
    Sie fühlte in den Ohren, dass etwas nicht stimmte. Ein leichtes Problem mit dem Kabinendruck. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen müssten, sagte der Pilot und entschuldigte sich für mögliche Unannehmlichkeiten. Sie verließen die Reiseflughöhe, und nach wenigen Minuten war es wieder vorbei. Nur die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen blieb. Als hätte sie sich ein kleines Glas warmes Wasser über den Schoß geschüttet. Und noch eins.
    Nach der Landung hielt sie sich den Bauch. Sie war die Letzte, die das Flugzeug verließ, ihr erster Weg führte auf die Toilette. Dort endete es.
    Ein Versprechen, streichholzgroß.
    Kein Leben, aber eine Hoffnung darauf.

3
    Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs
    M eine liebe kleine Schwester,
ich hoffe, dieser Brief erreicht Dich wohlauf und bei guter Gesundheit. Bitte verzeih mein langes Schweigen, ich weiß gar nicht mehr genau, wann ich das letzte Mal die Zeit gefunden habe, Dir ein paar Zeilen zu schreiben. War es in der Hitze des Sommers gewesen oder noch vor dem Wechsel des Monsuns?
    Eine Ewigkeit scheint seither vergangen, ohne dass allzu viel passiert wäre in meinem Leben oder in Kalaw. Die Frau des Astrologen ist erkrankt und wird bald sterben, die Tochter des Besitzers je nes Teehauses, in dem wir uns zum ersten Mal trafen, hat einen Sohn bekommen. Es ist ein Kommen und Gehen, wie überall auf der Welt, nicht wahr? Aber das Leben hier hat einen anderen Rhythmus als bei Dir, erinnerst Du Dich noch? Was mich betrifft, so muss ich zugeben, dass es mir an der Phantasie fehlt, mir vorzustellen, wie schnell sich Deine Welt dreht.
    Mir selbst geht es gut. Ich restauriere noch immer meine alten Bücher, auch wenn es mit der Zeit immer beschwerlicher und mühsamer wird. Die Augen, liebe Schwester, die Augen werden von Tag zu Tag schlechter, ich erreiche allmählich das Alter des abnehmenden Lichts. Außerdem nimmt die unangenehme Angewohnheit meiner rechten Hand, ein wenig zu zittern, weiter zu, was es nicht leichter macht, die kleinen Papierschnipsel auf die Löcher zu kleben, die das gefräßige Ungeziefer unerbittlich in die Seiten bohrt. Früher habe ich ein Vierteljahr benötigt, um eines meiner Bücher wieder in einen lesbaren Zustand zu verwandeln, jetzt ist es ein halbes und bei dicken Büchern sogar mehr. Doch was macht es für einen Unterschied, frage ich mich manchmal, wenn ich mich selbst zur Eile mahne? Wenn ich von etwas genug besitze, dann ist es Zeit. Ihre Kostbarkeit wissen wir erst im Alter wirklich zu schätzen, und ich bin ein reicher Mann. Aber was belästige ich Dich überhaupt mit den Zipperlein eines alten Mannes. Wenn ich meinen Stift nicht zügele, machst Du Dir noch Sorgen um Deinen Bruder, und nichts wäre unbegründeter. Mir fehlt es an nichts.
    Bei Dir müsste der Herbst angebrochen sein, habe ich recht? In einem meiner Bücher habe ich einmal gelesen, der Herbst sei die schönste Jahreszeit in New York. Stimmt das? Ach, wie wenig ich doch weiß von Deinem Leben.
    Bei uns neigt sich die Regenzeit dem Ende zu, die Luft ist wieder trocken und klar, es wird kühler, und es wird auch nicht mehr lange dauern, dann liegt der erste Raureif auf den Gräsern in meinem Garten. Oh, wie sehr ich den Anblick des zarten Weiß auf den tiefgrünen Blättern schätze.
    Gestern hat sich hier etwas Sonderbares zugetragen. Eine Frau ist unter dem Banyanbaum an der großen Kreuzung tot zusammengebrochen. Zuvor, so wurde mir von meiner Nachbarin, die Zeugin des Vorfalls war, berichtet, hatte sie Wehklagen ausgestoßen. Sie war auf dem Weg zum Markt gewesen, hatte sich, wegen eines unvermittelten Schwächeanfalls, auf ihre sie begleitende Schwester gestützt und immer wieder laut um Vergebung gebeten. Dabei waren ihr gewaltige Tränen über die Wangen gelaufen, groß wie Erdnüsse sollen sie gewesen sein, was ich nur schwer zu glauben vermag, Du weißt ja, dass die Menschen bei uns nicht selten zu Übertreibungen neigen. Plötzlich hatte sie sich von ihrer Schwester abgewandt, um einem jungen, ihr
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