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Herzensach - Roman

Herzensach - Roman

Titel: Herzensach - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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am Ende der Straße, war es geschehen. Immer wieder mußte er gegenüber seiner Frau seine Unschuld beteuern. (Glaub mir doch, sie hat sich losgerissen, wirklich!) Seine Frau jedoch zweifelte, richtete es von dieser Zeit an ein, daß er nicht mehr mit den Kindern allein spazierenging – weder mit der inzwischen zwölfjährigen Anne noch mit der zehnjährigen Katja. Ein stummer Vorwurf über all die Jahre. Trivial aber besaß seit diesem Vorfall einen Freiraum, und immer mehr Legenden rankten sich um ihn: Trivial weckte den Bauern Hermann Tomba, als eines Nachts dessen Scheune brannte. Trivial rettete Bauernkinder aus Jauchegruben. Trivial verscheuchte Einbrecher und verjagte Landstreicher. Trivial beschützte eine verletzte Ente vor den Dorfkatzen. Der Gastwirt Peter Wischberg erzählte besonders gern, daß der Hund eines Tages knurrend vor seinem Auto gelegen habe und ihn nicht fortfahren ließ, bis er schließlich die Motorhaube öffnete und zu seinem Erschrecken feststellen mußte, daß ein Marder die Bremsleitung angeknabbert hatte.
    »Wie alt mag der sein?« fragte der Arzt, denn er konnte sich nicht erinnern, ob Trivial schon bei seinem Einzug im Dorf gelebt hatte. Er ging zurück zu dem Bauern.
    »Zweiundsechzig«, sagte der Bauer.
    »Nein, der Hund.«
    »Der Wirt?«
    »Nein, Trivial.«
    Sein Patient zuckte mit den Achseln.
    Doktor Bernhard Andree nahm sein Stethoskop und begann die Brust abzuhorchen. Es war das Geräusch einer Raucherlunge, aber der Arzt sparte sich die Frage nach Zigaretten oder Zigarren. Er wußte, sein Patient war Nichtraucher, und die Ursache für das angegriffene Organ war eher der Staub in den Ställen, vor allem der Futterstaub in den Schweineställen.
    »Ich habe Ihnen sicher schon empfohlen, eine Schutzmaske im Stall zu tragen?«
    Der Bauer stieß die Luft aus. »Wir sind anständige Leute.«
    »Sicher, sicher.«
    »Mein Vater ist zweiundneunzig geworden und hat auch den ganzen Tag im Schweinestall gestanden.«
    Der Internist schüttelte den Kopf. Diese Antwort kannte er. Doch die Schweinemast hatte sich seit der Zeit der Väter und seit dem enormen Bedarf der Wurstfabrik Wilhelm Webers gewaltig verändert.
    »Wo genau tritt der Schmerz auf?«
    »Hinten. Da so oben.« Der Bauer zeigte mit der Hand über seine Schulter.
    Doktor Bernhard Andree ließ seinen Patienten sich drehen. Erstaunt zog er die Brauen hoch. Weiße Flecken überzogen den Rücken des Landwirts. Pigmentstörungen, die bei früheren Untersuchungen nicht so deutlich zu sehen gewesen waren. Der Arzt betrachtete die gefleckten Schultern ein wenig zu lange und zu reglos, so daß der Bauer mißtrauisch fragte, was denn los sei.
    »Ihre Haut. Haben Sie in der Sonne gelegen?«
    Der Bauer lachte. »Keine Zeit für so etwas.«
    Der Arzt strich über die weißen Flecken, einige waren noch undeutlich, andere grenzten sich scharf ab, genau wie bei den beiden anderen Patienten, an denen er erst vor einigen Tagen dasselbe Phänomen entdeckt hatte.
    Er wußte nichts damit anzufangen, aber es schien sich unter den Dorfbewohnern auszubreiten. Und wie in letzter Zeit immer häufiger, ergriff ihn Furcht. Ihm war, als hätte er etwas unsagbar Entsetzliches entdeckt, etwas, das kein Arzt der Welt heilen konnte, das zur Isolation des Dorfes und zu seiner Zerstörung führen würde – mehr noch: zu fliehenden Menschenmengen, zu Plünderungen, zu Panik, zu Mauern und elektrischem Stacheldraht, zu geschlossenen Grenzen, zu endlosen Autostaus, zu Tausenden von Toten, zu Krieg, Mord, Chaos und Anarchie ...
    Der Arzt wandte sich von seinem Patienten ab und ging schwankend zum Fenster. Ein Fremder stand vor dem Gasthof. Es ging schon los.

3
    Peter Wischberg kam aus der Küche hinter den Tresen gehinkt. Sein Kinn glänzte noch von dem Fett, das kurz zuvor daran herabgetropft und von seinem vorstehenden Bauch aufgefangen worden war. Er betrachtete den Fremden, der seine Gaststube betreten hatte, mit unverhohlener Neugier, dann schlug er mit seiner Fliegenklatsche zu und erwischte zwei seiner Feinde, die am Rand des Tresens still aufeinanderhockten.
    »Tag.«
    Jakob Finn hatte den Schlag nicht kommen sehen und zuckte zusammen.
    »Tag.«
    Nachdem er den Bauernhof, ohne telefoniert zu haben, fluchtartig verlassen hatte, war dem Studenten das Schild mit der altdeutschen Schrift »Gasthof Herzensfrische« ins Auge gefallen. Er hatte noch einen Augenblick über den Sinn des großen farbigen Wandgemäldes über der Eingangstür nachgedacht, das beim
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