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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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Niederschreiben dieses Textes – was, für ihn ganz untypisch, in fieberhaftem Schaffensrausch geschah – unterbrach er seine
     Arbeit an einem anderen Manuskript, das wenig später zu seinem ersten großen Roman werden sollte,
Lord Jim
, erschienen 1904.   Es scheint, als habe er sich hier zunächst wie von einem Alb befreien müssen, der lange auf ihm lastete und dem er um die
     Jahreswende 1898   /   99 endlich literarische Gestalt gab. Dazu nutzt er abermals seine Erzählfigur jenes englischen Seefahrers namens Charlie Marlow,
     der ihm zuvor schon gute Dienste getan hat. Wieder läßt Conrad ihn von seinen Reisen in entlegene oder exotische Winkel der
     Welt berichten, wie sie zu Zeiten kolonialer Aufbruchsstimmung vielfach die europäische Phantasie erregt haben. Was immer
     aber solche Orte einst an Glanz und Verlockung ausstrahlten, entlarvt sich bald als trügerische Vorstellung der Daheimgebliebenen.
     Wenn Marlow zu Beginn von
Herz der Finsternis
seine Erinnerungen an die fabelhaften weißen Flecken im alten Kinderatlas heraufbeschwört, treibt er zugleich alle Hoffnung
     aus, jemals dorthin zu gelangen: die Refugien des Wunderbaren sind entzaubert, das Fernweh kippt ins Albtraumhafte. Ebenso
     verfährt der Autor, wenn er die Zauberworte altbekannter Abenteuerromantik erneut aufruft. Aus populären Afrikaromanen und
     Expeditionsberichten nach dem Geschmack der Zeit bricht er sich lediglich Bausteine für sein eigenes Werk, Versatzstücke der
     Tradition, mit denen er Konturen einer zerfallenden Weltordnung nachstellt.
    |135| Die Seefahrt, seit der
Odyssee
erprobtes Mittel für epische Wirklichkeitsbewältigung wie für Verirrung, gibt ihm die passenden Spielregeln. Einerseits dauernde
     Bewegung, die zu immer neuer Raumerschließung und ständiger Begegnung mit dem Fremden führt, stellt sie andererseits eine
     überschaubare Umgebung her, die Sicherheit, ja das Gefühl des Seßhaften verschafft. Wie uns der namenlose Rahmenerzähler gleich
     zu Beginn erklärt, ist an Bord des Schiffes alles in so fester Ordnung, daß es geradezu Geborgenheit vermittelt. Auch Marlow,
     darin ganz Seemann, träumt davon, daß alles stets am angestammten Platz bleibe: die Frauen in ihrer Welt des schönen Scheins,
     die Schwarzen in jener urwüchsigen Natur, der sich die raffgierigen Weißen und Geschäftemacher besser fern hielten. Andererseits
     ist er ein rastlos Reisender, der das aufgeräumte, sichere Kleinbürgerleben zwischen Schutzmann und Metzger, wie er deutlich
     sagt, verachtet. So wird Marlow zur Modellfigur. Zwischen Sehnsucht nach einer verläßlichen Ordnung und der Flucht aus ihrer
     trauten Enge, fortwährend zwischen Lust und Schauder angesichts des rückhaltlosen Ausbruchs schwankend, zeigt er das Doppelgesicht
     der europäischen Kultur zur vorletzten Jahrhundertwende: zwischen Behaglichkeit und Unbehagen.
    Conrad wußte wohl, wovon er schrieb. Bevor er sich der Literatur zuwandte, war er selbst jahrelang zur See gefahren und hatte,
     erst in der französischen, dann in der englischen Handelsmarine, die Weltmeere durchkreuzt. Von seinem siebzehnten bis zum
     siebenunddreißigsten Jahr fand er dort Arbeit, Abenteuer und auch Schutz, denn als früh verwaister Sohn eines politischen
     Gefangenen drohte ihm lange Zeit die Zwangsverpflichtung ins russische Militär. Eigentlich hieß er Józef Teodor Konrad Korzeniowski,
     geboren 1857 im polnischen Berditschew (heute in der Ukraine), das aber seit der Teilung Polens zaristischer Herrschaft unterstand.
     Die Familie |136| war verarmt, dabei von altem Adel und glühendem Patriotismus. Der Vater, ein beachtlicher Dichter, Übersetzer und romantischer
     Rebell, geriet 1861 wegen freiheitlicher Umtriebe in russische Gefangenschaft und in Verbannung, was ihn wie auch die Mutter
     gesundheitlich zugrunde richtete; sie starb 1865, er vier Jahre später. Der Sohn, fortan unter der Obhut eines Onkels, ging
     1874 nach Marseille. Die Hafenstadt galt ihm als Sprungbrett in die weite Welt, wo er auf großem Fuße und auf Pump lebte,
     immer wieder anheuerte und zwischendrin in Schulden sowie Depressionen fiel. Erst als er schließlich in England Kapitänspatent
     und Staatsbürgerschaft erwirbt, stabilisiert sich seine Lage. Die Weltmacht des Britischen Empire verspricht dem Flüchtling
     Sicherheit und Zukunft. Zugleich, so sagt er später, verschafft ihm das Englische, das er nach Polnisch und Französisch lernt
     – seine ersten Sprachlehrer waren einfache
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