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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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Matrosen auf einem Kohlentransporter   –, seine eigentliche Heimat. Die Sprache adoptiert ihn förmlich, er beginnt zu schreiben. Der Debütroman
Almayers Wahn
ist Manuskript, als er 1894 seinen Abschied von der See nimmt. Die Entlassungspapiere unterschreibt er erstmals mit dem neuen
     anglisierten Namen »J.   Conrad«.
    Den ersten längeren Text auf Englisch allerdings hatte er schon vier Jahre zuvor verfaßt, ein Tagebuch aus knappen Einträgen
     und navigatorischen Notizen, das seine folgenreiche Reise durch den Kongo protokolliert. Er fuhr dorthin als Angestellter
     einer belgischen Kompagnie, in deren Diensten er das Kommando eines Flußdampfers, Hauptverkehrsmittel zur kolonialen Ausbeutung
     des Landes, übernehmen wollte. Der sogenannte »Freistaat Kongo«, wie er seit der Berliner Afrika-Konferenz von 1885 hieß,
     war damals de facto Eigentum des belgischen Königs Leopold II., der es sich durch raffinierte Diplomatie, Expeditionsprojekte
     und die Entsendung von Henry Morton Stanley als Gouverneur gesichert hatte. Konzessionen |137| an private Handelsgesellschaften sollten die wirtschaftliche Erschließung des riesigen, weithin unzugänglichen Territoriums
     vorantreiben und dienten doch ausschließlich dem Profit. Dieses beispiellos brutale Vorgehen sorgte in Europa bald für einhelliges
     Entsetzen, wohl weil damit die Rhetorik von zivilisatorischer Höherentwicklung, mit der sich imperiale Interessenspolitik
     ansonsten gern verbrämte, entlarvt wurde. Das ganze Ausmaß solcher Greueltaten wurde 1904 bekannt, als Roger Casement, ein
     britischer Konsul, den Conrad vor Ort kennenlernte, einen offiziellen Bericht über den Freistaat veröffentlichte. Gewiß wurde
     auch Kapitän Conrad auf seiner Reise 1890 mit vielem konfrontiert, was das Vorstellungsvermögen an Schrecklichem übertraf.
     Es ist daher bezeichnend und für sein späteres Werk wohl von Belang, wie er sich mit dem Tagebuch inmitten dieser fremden,
     albtraumhaften und verwirrenden Tropenwelt Orientierung durch die erlernte Sprache seiner Profession verschafft.
    Nach knapp sechs Monaten bricht Conrad den Kongo-Aufenthalt und sein Engagement bei der belgischen Handelskompagnie ab und
     kehrt, durch schwere Krankheit zeitlebens gezeichnet, nach England zurück. Als er sich jedoch acht Jahre später an die literarische
     Gestaltung dieser Reise macht, liegt das entscheidende und auffallendste Merkmal seines Vorgehens gerade darin, daß er konsequent
     alle Kennzeichnung der geographischen Bezüge tilgt. Angefangen mit der zweideutigen Titelmetapher sind in
Herz der Finsternis
fast sämtliche Ortsnamen abwesend: weder Afrika noch der Kongo, weder London noch Brüssel werden jemals klar benannt und doch
     nur umso suggestiver in eine zeichenhafte, mythisch grundierte und symbolisch überhöhte Landschaft übertragen, darin jeder
     konkrete Ort allenfalls verfremdet kenntlich wird. Alles scheint angedeutet und bedeutungsvoll, nichts deutlich greifbar.
     In der so geschaffenen, teils irrealen, teils realistischen |138| Fiktionswelt ergeht es uns als Lesern ganz wie dem Protagonisten und Erzähler selbst, denn auch wir geraten immer stärker
     in den Sog der Spurensuche nach irgendwie brauchbaren Anhaltspunkten. Die
Untersuchung über einige Aspekte der Seemannschaft
, das rätselhafte Buch, das Marlow unerwartet in der Wildnis findet, gewinnt eben deshalb Schlüsselcharakter. Es ist ein Phantombild
     des Vertrauten und zeigt an, was diese Reiseerzählung durchweg antreibt: der gesamte Text ist auf der Suche nach der Wirklichkeit
     im Unwirklichen.
    Damit stellt er zugleich eine zeitkritische Diagnose, da er die bizarren Formen einer total bürokratisierten Lebenswelt entlarvt.
     Die Handelsgesellschaft ist mit ihren starren Hierarchien, gewundenen Kommunikationswegen und entrückten Entscheidungsträgern,
     die alles Handeln vor Ort fremdbestimmen, ein frühes Abbild jener Verwaltungsapparate, die wir mittlerweile »kafkaesk« nennen.
     Bei Conrad, der bereits an dieser Symptomgeschichte der Moderne schreibt, finden sich die Angestellten in den Busch versetzt,
     wo ihre Büroroutine nur noch absurder, wirklichkeitsfremder, vergeblicher erscheint, gerade weil sie ihre titelgebende Funktion   – Prokurist, Manager, Agent – mit größter Emsigkeit zu zelebrieren bemüht sind. Daß sie statt Namen nur Funktionsbezeichnungen
     tragen, sagt schon alles über sie und zeigt zudem, wodurch der talentierte Mr.   Kurtz, der zunächst auch einer
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