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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis
Autoren: Joseph Conrad
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der ihren ist, sich dennoch unterscheidet. Außer Marlow die einzige Figur mit Eigennamen, bildet
     Kurtz in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Sein Charisma – oder ist es sein Tropenkoller? – macht ihn zur machtvoll faszinierenden
     Gegengestalt der ganzen undurchsichtigen Gesellschaft. Verführer und Verführter gleichermaßen, tritt Kurtz ihrer Behauptung
     als Frage gegenüber: was geschieht, wenn wir aus der verwalteten Zivilordnung ausbrechen, das Kanu in die Wildnis wenden,
     weder Schutzmann noch Metzger länger achten, sondern alle Gewalt und |139| wohl auch Schlachterei selbst in die Hand nehmen? Ob dies den Durchbruch zum Authentischen oder einen Rückfall ins Barbarische
     bringt, läßt Marlows Bericht irritierend offen. Fest steht allerdings, daß er den aufgepfählten Köpfen vor Kurtz’ Hauptquartier
     letztlich ebenso Respekt zollt wie dem weißen Kragen des aufrechten Prokuristen: beides bezeugt für ihn Rückgrat.
    Solche Ambivalenz ist überhaupt bezeichnend, wo nichts eindeutig und alles doppelsinnig scheint. So nimmt Marlow selbst im
     Laufe seiner langen Rede, während rings die Nacht hereinbricht, immer merklicher die Rolle von Kurtz ein, der seinen Gefolgsleuten
     ja ebenfalls nur noch als Stimme präsent ist. Doch auch, was er erzählt, verunsichert und löst verläßliche Zuordnungen auf.
     Schon sein erster Satz »Und auch das war einer der finsteren Orte der Erde« zieht einen verstörenden Vergleich – hier zwischen
     römischem und britischem Imperium – und etabliert die Doppelperspektive, die alles weitere prägt. Immerfort nötigt sie uns,
     die Dinge auch auf andere Art zu sehen: die Großstadt ist getüncht wie ein Gräberfeld, das Straßenpflaster grasdurchwuchert
     wie die Wildnis, der Fluß wirkt öde wie die Wüste, die umgestürzte Lore ist ein Tierkadaver, das dumpfe Trommeln ist bedeutungsvoll
     wie Glockenläuten. Ständig rutscht das Wahrgenommene unvermittelt in einen anderen Rahmen, in dem sein Gegenbild hervortritt.
     Grenzziehungen und klare Trennlinien zwischen vermeintlich wesensfremden Welten werden zunehmend zweifelhaft. Auch die beiden
     schwarz-weiß skizzierten Frauenfiguren, kaum mehr als Männerphantasien aus Angstlust und Kontrollbegehren, erscheinen so als
     Doppelgestalt des Verwandten. Schließlich muß Marlowe auf der Flußfahrt, die ihn ins Innere und nicht wie eine Seefahrt in
     die Weite führt, sogar selbst eingestehen, daß all der dumpfe schwarze Massenwahn am Ufer ihm eben nicht unmenschlich oder
     unbekannt, sondern insgeheim |140| verwandt vorkommt: als freigelegte Spur zur eigenen Urvergangenheit. Denn ganz in dem Sinn, wie Sigmund Freud es wenig später
     in
Das Unbehagen in der Kultur
ausführen sollte, kann dieser kultivierte Kapitän seine Stellung nur dadurch behaupten, daß er beständig zwischen Triebverzicht
     und sublimierter Lustgewinnung navigiert. Beiderseits der schmalen Fahrtrinne droht nichts als Grauen.
    Mühelos gelingt es daher, Marlows Traumerzählung in der Redeweise der Psychoanalyse zu entschlüsseln, deren grundlegende Sprachlehre,
Die Traumdeutung
, zur selben Zeit entstand und der Moderne ihre Mythologie lieferte. Ein großer Teil der hundertjährigen Deutungsgeschichte
     von
Herz der Finsternis
hat dies tatsächlich unternommen. Deshalb aber ist der Zwischenruf eines neuen Conrad-Lesers wichtig, der die Debatte in eine
     ganz andere Richtung gelenkt hat und bis heute nachwirkt. 1975 hielt der nigerianische Autor Chinua Achebe, Vaterfigur der
     modernen afrikanischen Literatur, eine scharfe Abrechnung mit Conrads epochalem Text, warf ihm rundheraus Rassismus vor und
     seinen Exegeten Blindheit für dessen grotesk verzerrte Sicht, die alles Afrikanische nur als Vor- und Frühphase der europäischen
     Kulturentwicklung gelten läßt. Gewiß kann man dieser Kritik entgegenhalten, daß auch die meisten europäischen Figuren, die
     im Text auftreten, hohl und typisiert erscheinen und daß er etliche Passagen bietet, die den Wahn des kolonialen Unternehmens
     anprangern oder ironisch bloßstellen – was im Kontext seiner Zeit keineswegs selbstverständlich ist. Doch was es andererseits
     zu klären gilt, ist eben die Selbstverständlichkeit, mit der diese Erzählung ihren Abstieg ins kollektive Unbewußte so sinnfällig
     im kolonialen Territorium inszenieren kann, daß ihre Deutungsmuster fraglos weiterwirken. In die Ferne fahren, um in die Vorzeit
     zu gelangen, der eigenen Vergangenheit also dadurch zu begegnen, daß man
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