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Herrscher über den Abgrund

Herrscher über den Abgrund

Titel: Herrscher über den Abgrund
Autoren: Andre Norton
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wiederholte sie, und ihre Stimme wurde rauh. „Ja, jetzt glaube ich, daß sie vor dem Überfall kamen, um auszuspionieren, wie hilflos wir waren. Wäre ich nicht weit fort gewesen …“
    „Aber was hättest du schon tun können?“ Sander war verwirrt. Sie schien der Überzeugung zu sein, daß ihre Anwesenheit oder ihre Abwesenheit das Schicksal des Dorfes beeinflussen konnte. Aber das war doch unmöglich! Nein, das konnte er einfach nicht glauben.
    Sie warf ihm einen kurzen Blick zu: offensichtlich erstaunte sie seine Frage.
    „Ich gehöre zu denen, die die Macht besitzen. Meine Gedankenkraft umgab mein Volk mit einem Wall der Sicherheit. Es gab keine Gefahr, die ihnen hätte drohen können, die ich – oder Kai und Kayi – nicht hätte entdecken und vor der ich hätte warnen können. Ebenso wie ich es wußte – obgleich ich mein Herz geöffnet hatte, den Willen des Großen Mondes zu erfassen –, als der Tod die heimsuchte, die an mich glaubten! Ihr Blut lastet auf mir. Ich muß sie rächen, denn auf mir liegt die Last dieser Tat.“
    „Und wie kannst du sie rächen? Weißt du, wer die Plünderer und Mörder sind?“
    „Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich die Steine werfen.“ Sie berührte den groben Stoff ihres Mantels, unter dem die Kette mit den Edelsteinen verborgen war. „Dann werden ihre Namen erkannt. Aber zunächst muß ich in dem Vergangenen Ort eine Waffe finden, die denjenigen, die ihre Lust am Morden finden, Entsetzen einflößt, so daß sie wünschen, nie geboren zu sein.“ Um ihre Lippen spielte ein grausamer Zug, und der Ausdruck ihres Gesichts ließ Sander erschaudern.
    Nie hatte er selbst einen derartigen Zorn gespürt – nicht einmal Ibbets gegenüber –, um einem anderen den Tod zu wünschen. Als die Weißhäutigen angegriffen hatten, war er ein Kind gewesen, und der Kampf hatte ihn wenig berührt, obgleich seine Mutter eines der Opfer gewesen war. All sein Streben war allein darauf gerichtet gewesen, zu lernen, was er mit seinen Händen alles vermochte. Waffen dienten nur dazu, die Kunstfertigkeit des Handwerkers zu demonstrieren. Wenig dachte er an ihre spätere Verwendung.
    Was er in dem verwüsteten Dorf erblickt hatte, war abstoßend und ekelerregend gewesen, doch ihn selbst betraf es nicht: Die Toten waren Fremde für ihn. Hätte er einen der Angreifer entdeckt, ja, dann hätte er gekämpft, doch hauptsächlich, um sein eigenes Leben zu retten. Fanyis fanatischen Wunsch nach Rache konnte er nicht verstehen. Vielleicht würde er anders empfinden, wenn es sich um seine eigenen Leute gehandelt hätte.
    „Was glaubst du, welche Waffen sind in den Vergangenen Städten?“
    „Wer weiß? Es gibt viele alte Geschichten. Sie berichten, daß die Menschen früher mit Feuer und Donner getötet haben und nicht mit Stahl oder Pfeil. Vielleicht sind es nur Geschichten. Doch auch das Wissen ist eine Waffe – und diese Waffe zu gebrauchen, bin ich geboren.“
    Das wollte Sander zugeben. Er merkte, daß er unwillkürlich den Schritt beschleunigt hatte, als würde ihn der Gedanke an einen derartigen Ort aus den Vergangenen Zeiten vorwärtstreiben. Doch sie wagten nicht allzu viel zu hoffen. Die entsetzlichen Erdstöße während der Finsteren Zeit hatten das gesamte Land verändert. Konnten sie denn überhaupt sicher sein, daß irgend etwas von dem Vergangenen noch existierte?
    Als er den Gedanken aussprach, nickte Fanyi. „Das ist wahr. Und doch, die Händler haben ihre Gebiete, in denen sie sich versorgen. Etwas muß demnach übrig sein. Ich habe dies –“, sie berührte wieder den rauhen Stoff, unter dem der Anhänger versteckt war. „Ich gehöre einer Schamanenfamilie an. Von Mutter zu Tochter, seit undenkbaren Zeiten, wurde unser Wissen weitergereicht. Es gibt Geheimnisse, die man nur ergründen kann, wenn man dort ist, wo sie verborgen liegen. Was ich trage, ist selbst auch ein Geheimnis. Nur ich kann die Botschaft lesen, wenn ich es in der Hand halte. Bei keinem sonst wirkt der Zauber. Mit seiner Hilfe suche ich eine bestimmte Mauer …“
    „Und diese Mauer liegt im Nordosten …“
    „Ja. Lange schon wollte ich danach suchen. Aber meine Pflicht band mich an mein Volk. Ich mußte ihre Krankheiten heilen. Und nun treibt mich diese selbe Pflicht, damit ich Blut mit Blut vergelte.“
    Ihr Gesicht hatte einen maskenhaften Ausdruck angenommen, so daß Sander nicht wagte, weitere Fragen zu stellen. Sie wanderten schweigend. Die Tiere erkundeten das Gelände, und Rhin lief neben
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