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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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alles.
    Wonach er sich sehnte, waren Berichte über Tränen, ein untrügliches Zeichen für ihren nahen Zusammenbruch und ihren Wunsch nach Erlösung. Aber die bekam er nicht. Und die Anhänger der vierten Theorie behaupteten, Rachael hätte sich in Kenntnis seines unersättlichen Hungers, diejenigen, die bereits am Boden lagen, noch mehr zu demütigen, geschworen, dass er ihre Tränen niemals zu sehen bekommen oder von ihnen erfahren werde, auch nicht durch ihre Kinder oder die zahlreichen Spione. Und je länger sie standhielt, desto mehr gierte er nach ihrer Unterwerfung. Ihre Tränen waren zum Schlachtfeld ihrer beider Willenskräfte geworden.
    Diese Besessenheit von dem Wunsch, sie weinen zu sehen, führte, wie die Urheber der vierten Theorie meinten, zu der seltsamen Krankheit des Herrschers.
    Das Problem mit dieser Theorie bestand darin, dass sie entweder auf bloßen Gerüchten aufbaute oder sich aus dem ableitete, was man aus dem Verhalten der Kinder des Herrschers glaubte schließen zu können.
    Es war zugleich die am wenigsten bekannte der fünf Theorien, da sie nur im Flüsterton an Vertraute weitergegeben wurde. Denn wer war schon so dumm, öffentlich über derlei Dinge zu sprechen. Es sei denn, er liebäugelte mit dem Tod.

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    Schließlich gab es noch diejenigen, die bis auf den heutigen Tag schwören würden, dass die Krankheit des Herrschers weder mit seinem schwelenden Zorn zu tun hatte noch mit dem Schmerzensschrei eines Ziegenbocks, dem Unrecht getan worden war, weder mit einer überlangen Herrschaft noch mit Rachaels Tränen. Diese vertraten die fünfte Theorie: dass die Krankheit einzig und allein das Werk der Dämonen sei, die der Herrscher in einer besonderen Kammer im State House beherberge und die sich nun von ihm abgewandt hätten und ihm ihren Schutz verweigerten.
    Man erzählt sich, Wände und Decke dieser Kammer bestünden aus den Skeletten von Studenten, Lehrern, Arbeitern und Kleinbauern, die er in allen Teilen des Landes umgebracht hatte. Denn es war bekannt, dass er mit flammendem Schwert an die Macht gelangt war und die Leiber seiner Opfer wie gekappte Bananenstauden rechts und links von ihm zu Boden gesunken waren. Die Schädel der meistgehassten Feinde hingen an den Wänden, andere baumelten von der Decke herab, Knochenskulpturen, gebleichte Erinnerungen an Sieg und Niederlage.
    Diese Kammer war eine Mischung aus Museum und Tempel, und der Herrscher betrat sie jeden Morgen – nachdem er zunächst ein Bad im konservierten Blut seiner Feinde genommen hatte – ausgestattet mit Zeremonienstab und Fliegenwedel und schritt stumm umher, wobei er die Ausstellungsgegenstände in Augenschein nahm. Beim Hinausgehen drehte er sich gewöhnlich an der Tür noch einmal um, ließ einen letzten Blick durch die Kammer schweifen und winkte mit höhnischer Geste triumphierender Verachtung den dunklen Löchern und grinsenden Zähnen zu, an deren Stelle sich früher Augen und Münder befunden hatten.
    „Worauf wart ihr aus?“, fragte er die Schädel dann, als ob sie ihn hören könnten. „Auf diesen Fliegenwedel, dieses Zepter, diese Krone?“ Er hielt inne, als erwartete er eine Antwort, und da die Schädel keine gaben, brach er in schallendes Gelächter aus, als wollte er sie herausfordern, dem zu widersprechen, was er ihnen zu sagen hatte. „Ich habe euch die Zungen herausgerissen und die Lippen aufgeschlitzt, weil ich euch lehren wollte, dass ein Politiker, dem der Mund fehlt, kein Politiker ist.“ Es gab allerdings Momente, in denen die Schädel höhnisch zurückzugrinsen schienen, und dann verstummte sein Lachen plötzlich. „Ihr verfluchten Bastarde, es waren eure Gier und euer ungezügelter Ehrgeiz, die euch hierhergebracht haben. Habt ihr tatsächlich geglaubt, ihr hättet je eine Chance gehabt, mich zu stürzen? Ich will euch etwas sagen: Derjenige, der das wagen würde, ist noch nicht geboren, und wenn doch, müsste er sich in einen Geist verwandeln und sich einen Bart wachsen lassen und Menschenhaare an den Fußsohlen haben. Das habt ihr nicht gewusst, oder?“, fügte er stets hinzu und richtete mit schäumendem Mund seinen Stab auf sie.
    Ich will eingestehen, dass ich, der Erzähler, die Existenz dieser Kammer weder beweisen noch widerlegen kann. Es könnte sich hier durchaus nur um ein Gerücht oder um eine Geschichte aus dem Mund von Askari Arigaigai Gathere handeln. Aber wenn sie existiert, beweist einfache Logik, dass es die morgendlichen Riten des Herrschers in dieser
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