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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Aber warum jetzt Schulmädchen? Sind sie nicht gerade erst so alt wie die von dir gezeugten Kinder? Sind sie denn nicht auch unsere Kinder? Heute zeugst du sie und morgen machst du sie zu deinen Gespielinnen? Weinst du keine Tränen aus Sorge um unsere Zukunft?“
    Sie aßen im State House zu Abend und für Rachael war dieser Abend etwas Besonderes, weil sie zum ersten Mal seit langem allein waren. Die Last, einer ganzen Nation vorzustehen, erlaubte ihnen kaum, jemals gemeinsam zu speisen und ein Gespräch als Ehepaar zu führen. Rachael glaubte an das Sprichwort „Kleider machen Frauen“, und deshalb hatte sie an diesem Abend besondere Sorgfalt auf ihr Aussehen verwandt. Sie trug ein weißes Baumwollkleid mit tiefem V-Ausschnitt und kurzen, plissierten Ärmeln, eine Kette, die ihren schlanken Hals zur Geltung brachte, Ringe an den Fingern, und die von ihren zarten Ohren herabhängenden Diamanten ließen sie in funkelndem Glanz erstrahlen.
    Wir können uns die Szene genau vorstellen: Die Gabel des Herrschers war zielsicher auf ihrem Weg zum Mund und er gerade dabei, sich einen Bissen Hühnchenfleisch zu genehmigen, als bei Rachaels Worten die Gabel auf halber Strecke in der Luft stehen blieb. Langsam ließ er sie auf den Teller zurücksinken, das Hühnchenfleisch lag noch darauf, nahm die Serviette und wischte sich bedächtig die Lippen. Bevor er die Serviette zurücklegte, wandte er sich an seine Frau und fragte: „Rachael, habe ich richtig gehört, dass du mir vorwirfst, ich hätte mich Schulmädchen aufgedrängt? Dass ich keine Tränen der Sorge über unsere Zukunft vergieße? Hast du jemals von einem Herrscher gehört, der weint? Vielleicht einmal abgesehen von diesem … ach, reden wir nicht weiter über ihn. Und was haben ihm seine täglichen Tränen im erwachsenen Mannesalter gebracht? Er hat den Thron eingebüßt. Willst du etwa, dass es mir ergeht wie ihm?“
    Natürlich besteht immer ein Unterschied zwischen einem Gedanken und seiner Beschreibung. Was dem Herrscher tatsächlich durch den Kopf ging, als er die Gabel auf den Teller legte und sich mit einer Ecke der Serviette den Mund tupfte, war nicht etwa das Schicksal eines anderen, der geweint und so seinen Thron verloren hatte, sondern vielmehr, wie er es anstellen sollte, Rachael begreiflich zu machen, dass er, der Herrscher, über Macht verfügte, wirkliche Macht über alles und jeden, einschließlich … ja, tatsächlich … sogar über die Zeit. Ihn schauderte bei diesem Gedanken. Doch noch bevor dieser Schauder ihn vollständig erfasst hatte, stand sein Entschluss fest.
    Mit gekünstelter Ruhe und einem matten Lächeln teilte er Rachael mit, dieses unvollendete Essen sei ihr letztes gemeinsames, er sage sich augenblicklich von ihr los, um ihr Zeit zu geben, über die Ungeheuerlichkeiten ihrer Behauptungen nachzudenken. Und weil sie einen Ort brauche, an dem sie in sich gehen könne, wolle er wahr machen, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Auch für Sünderinnen.
    Auf einem drei Hektar großen Landstück ließ er für sie ein Haus errichten, umgeben von einer Steinmauer und einem Elektrozaun; und während er nachdenklich die unüberwindbaren Mauern betrachtete, kam ihm die Idee für ein Bauwerk in den Sinn, das in seiner Vorstellung bis in den … Doch darüber sollten wir später berichten, weil dieser Gedanke von einem seiner treuesten Minister, der ihn vorbehaltlos bewunderte, aufgegriffen wurde. Was jedoch zweifellos Produkt seines eigenen Genies war, sowohl in der Planung als auch in der Ausführung, war der Bau dieses Hauses für Rachael.
    Alle Uhren in diesem Haus wurden exakt auf die Sekunde, Minute und Stunde eingestellt, in der Rachael die Frage nach den Schulmädchen gestellt hatte. Die Kalender im Haus wiesen genau diesen Tag, den Monat und das Jahr aus. Die Uhren schlugen, aber die Zeiger bewegten sich nicht. Und der mechanische Kalender sprang immer wieder auf dieses Datum. Das Essen, das ihr aufgetischt wurde, war das gleiche wie bei ihrem letzten Abendessen, die Kleider dieselben, die sie an jenem Abend getragen hatte. Bettbezüge und Vorhänge glichen denen in dem Haus, in dem sie zuvor gewohnt hatte. Radio und Fernseher wiederholten die Sendungen, die zur Zeit des Abendessens ausgestrahlt worden waren. Alles in diesem neuen Haus war eine getreue Nachbildung eben jenes Augenblicks.
    Der Plattenspieler war so eingestellt, dass er unablässig eine einzige Hymne abspielte:
    Unser
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