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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Herr kehrt eines Tages wieder
    Und führt uns in sein Himmelreich
    Dann werd ich wissen, wie sehr er mich liebt
    Wenn er eines Tages wiederkehrt
    Und wenn er wiederkehrt
    Werdet ihr Gottlosen zurückgelassen
    Und eure gottlosen Taten beweinen
    Wenn unser Herr eines Tages wiederkehrt
    Der Gedanke, diese Hymne endlos wiederholen zu lassen, gefiel ihm so gut, dass er in allen vier Ecken des drei Hektar großen Anwesens Verstärker und Lautsprecher aufstellen ließ, damit auch Passanten von der Musik und dem Text profitierten.
    Rachael sollte dort auf seine Wiederkehr warten. Erst an dem Tag, an dem er feststellte, dass sie alle Tränen für die Zukunft der Kinder vergossen hatte, die zu missbrauchen sie ihn beschuldigt hatte, erst an dem Tag würde er sie wieder zu sich nehmen und das Leben mit ihr genau an dem Punkt neu beginnen, an dem es angehalten worden war. Und Rachael würde ihr Leben, das auf der Stelle getreten war wie ein Standbild im Film, wieder aufnehmen. Ich bin dein Anfang und dein Ende.
    „Was bist du gewesen, bevor ich dich zur Frau nahm?“, fragte er und gab selbst die Antwort: „Grundschullehrerin. Ich bin die Vergangenheit und die Gegenwart, die du gewesen bist.“ Und er fügte, während er sich umdrehte und entfernte, noch hinzu: „I am your tomorrow, take it or leave it.“
    Das Gefängnis verfügte über nur einen Eingang. Am Steintor war eine bewaffnete Wache postiert, die darauf achtete, dass Rachael ihr Gefängnis weder verließ noch Besucher empfing – mit Ausnahme der Angestellten, die die Vorräte auffüllten und zugleich als Spione arbeiteten, oder aber ihrer Kinder.
    Ihrer Kinder? Abgesehen von den zahllosen anderen Kindern, die er mit seinen jungen Bettgefährtinnen gezeugt hatte, hatte er vier Söhne mit Rachael. Im Unterricht gehörten sie nicht gerade zu den Hellsten, und er hatte sie vor ihrem Abschluss von der Schule genommen und in die Armee gesteckt, damit sie ihr Handwerk von Grund auf lernten. Dort waren sie schnell zu höchsten Dienstgraden aufgestiegen. Zu Beginn der eingefrorenen Gegenwart ihrer Mutter war Rueben Kucera, der älteste Sohn, Drei-Sterne-General im Heer; Samwel Moya, der Zweitgeborene, Zwei-Sterne-General bei der Luftwaffe; Dickens Soi, der dritte, Ein-Sterne-General der Marine; und der jüngste, er hieß Richard Runyenje, war Hauptmann im Heer. Neben ihren militärischen Verpflichtungen waren sie im Aufsichtsrat verschiedener halbstaatlicher Organisationen, die allesamt eng mit ausländischen Firmen verflochten waren, besonders mit denen, die mit der Erschließung von Erdölvorkommen und dem Abbau von Edelmetallen zu tun hatten. Außerdem saßen sie in mehreren Kontrollräten. Dort bestand ihre Hauptaufgabe darin, alle gegen die Regierung gerichteten Pläne in den drei Waffengattungen der Armee auszuspionieren und Schmiergelder entgegenzunehmen. Das einzige Problem war, dass alle vier dermaßen dem Alkohol und Drogen verfallen waren, dass es ihnen schwerfiel, sich darüber auf dem Laufenden zu halten, was in der Armee oder den Aufsichtsräten überhaupt vor sich ging. Der Herrscher war darüber ziemlich enttäuscht, denn er hatte gehofft, zumindest einer ihrer gemeinsamen Söhne käme für den Thron in Frage und würde eine mächtige Familiendynastie begründen. Deshalb schimpfte er oft mit ihnen wegen ihres mangelnden Ehrgeizes und fehlenden Machthungers. An den Tagen aber, an denen sie ihre gesammelten Informationen bei ihm ablieferten, herrschte stets die festliche Stimmung einer Familienfeier.
    Das Leben ihrer Mutter in dem Drei-Hektar-Käfig erschien ihnen nicht als besonders strenge Haft, und wenn sie nicht gerade zu betrunken waren, riefen sie bei ihr an, um zu fragen, wie es ihr gehe. Denn Rachael konnte zwar Gespräche entgegennehmen, selbst jedoch niemanden anrufen. Und wenn sie ihnen antwortete, es gehe ihr gut, nahmen sie das wörtlich und widmeten sich schleunigst wieder den Dingen, mit denen sie sich am besten auskannten: Alkohol, Drogen und Bestechungsgelder.
    Tatsächlich legten die Söhne durch ihre Anrufe – auch wenn das nur ab und zu geschah – mehr Menschlichkeit an den Tag als ihr Vater, der sie nicht ein einziges Mal besuchte, um im Guten oder im Bösen ein Wort mit ihr zu wechseln. Trotzdem beschäftigte sich der Herrscher in Gedanken ständig mit Rachael. Täglich erhielt er Berichte über ihre Stimmungen und Unternehmungen, womit sie ihre Tage verbrachte, wie sie schlief, den Inhalt ihrer Selbstgespräche, einfach über
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