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Herr der Diebe

Herr der Diebe

Titel: Herr der Diebe
Autoren: Funke Cornelia
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des Jüngeren – und nickte. »Ja, ich übernehme ihn«, sagte er. »Ich werde die beiden schon finden. Sie sehen wirklich noch etwas zu jung aus, um allein zurechtzukommen. Sind Sie als Kinder auch mal weggelaufen?«
»Du meine Güte, nein!« Esther Hartlieb blickte ihn entgeistert an. Ihr Mann schüttelte nur spöttisch den Kopf. »Ich schon.« Victor klemmte das Foto der beiden Jungen unter den geflügelten Löwen. »Aber allein. Ich hatte leider keinen Bruder. Weder einen kleinen noch einen großen. Lassen Sie mir Anschrift und Telefonnummer hier und kommen wir zu meinem Honorar.«
Während die Hartliebs sich wieder die enge Treppe hinunterquälten, trat Victor auf seinen Balkon hinaus. Der Wind fuhr ihm kalt ins Gesicht, er schmeckte nach Salz vom nahen Meer, und Victor stützte sich fröstelnd auf das rostige Geländer und beobachtete, wie die Hartliebs die Brücke betraten, die zwei Häuser weiter den Kanal überspannte. Es war eine schöne Brücke, aber das bemerkten sie nicht. Mit mürrischen Gesichtern hasteten sie hinüber, ohne einen Blick für den struppigen Hund, der sie von einem vorbeifahrenden Boot ankläffte. Natürlich spuckten sie auch nicht über die Brüstung, wie Victor es immer tat. »Na ja, wer sagt, dass man seine Auftraggeber mögen muss!«, brummte er und beugte sich über seine zwei Schildkröten, die die faltigen Hälse aus ihrem Pappkarton reckten. »Solche Eltern sind immer noch besser als gar keine Eltern. Oder? Was meint ihr? Haben Schildkröten überhaupt Eltern?« Gedankenversunken blickte Victor den Kanal hinunter, an all den Häusern entlang, deren steinerne Füße Tag und Nacht das Wasser umspülte. Mehr als fünfzehn Jahre lebte er nun schon in Venedig, aber er kannte immer noch nicht alle verborgenen Winkel der Stadt. Niemand tat das. Es würde nicht leicht sein, die zwei Jungen zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollten. So viele Gassen, so viele Schlupfwinkel, enge Straßen mit Namen, die keiner sich merken konnte. Manche hatten nicht einmal einen Namen. Vernagelte Kirchen, leer stehende Häuser. Das lud ja geradezu zum Versteckspielen ein. Was soll’s, Verstecken habe ich auch immer gern gespielt, dachte Victor, und bisher habe ich noch jeden gefunden. Acht Wochen kamen die beiden schon allein zurecht. Du meine Güte. Als er von zu Hause weggelaufen war, hatte er die Freiheit gerade mal einen Nachmittag ausgehalten. Bei Anbruch der Dunkelheit war er reumütig und mit klopfendem Herzen wieder nach Hause geschlichen.
Die Schildkröten zupften an dem Salatblatt, das er ihnen hinhielt. »Ich glaube, ich muss euch heute Nacht hereinholen«, sagte Victor. »Dieser Wind riecht nach Winter.«
Lando und Paula schauten ihn mit ihren wimpernlosen Augen an. Manchmal verwechselte er sie, aber das schien ihnen nichts auszumachen. Auf dem Fischmarkt hatte er die beiden entdeckt, als er Ausschau nach einer Perserkatze gehalten hatte. Victor hatte die vornehme Katzendame aus einem Fass stinkender Sardinen gefischt, und als er es endlich geschafft hatte, sie kratzsicher in einem Pappkarton zu verstauen, hatte er die zwei Schildkröten gesehen – wie sie ungerührt zwischen all den Menschenfüßen herumstapften. Erst als Victor sie aufsammelte, hatten sie sich erschrocken in ihren Panzern versteckt.
Wo fange ich mit der Suche nach den Jungen an?, dachte Victor. In den Kinderheimen? Den Krankenhäusern? Traurige Orte. Aber die Besuche dort kann ich mir wahrscheinlich sparen. Das haben die Hartliebs bestimmt längst erledigt. Er lehnte sich weit übers Balkongitter und spuckte hinunter in den dunklen Kanal. Bo und Prosper. Schöne Namen, dachte er, auch wenn sie seltsam sind.

Die Hartliebs hatten Recht. Prosper und Bo hatten es wirklich geschafft, bis nach Venedig zu kommen. Weit, weit waren sie gefahren, Tage, Nächte, hatten in ratternden Zügen gehockt und sich versteckt vor Schaffnern und neugierigen alten Damen. Hatten sich in stinkenden Klos eingeschlossen und in dunklen Ecken geschlafen, eng aneinander gepresst, hungrig, müde und durchgefroren. Aber sie hatten es geschafft und sie waren immer noch zusammen.
Als ihre Tante Esther auf dem Stuhl vor Victors Schreibtisch Platz nahm, lehnten die beiden in einem Hauseingang, nur wenige Schritte entfernt von der Rialtobrücke. Der kalte Wind blies auch ihnen um die Ohren und flüsterte ihnen zu, dass es vorbei war mit den warmen Tagen. Doch in einem irrte Esther sich. Prosper und Bo waren nicht allein. Ein Mädchen stand bei ihnen,
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