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Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk

Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk

Titel: Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
Autoren: Hugo Ball
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»Es«,
    dann theologisch »Er« nennt.
    Die Neurose ist längst kein Einwand mehr gegen ein Werk und
    seinen Verfasser. Im Gegenteil, sie kann, inmitten der modernen
    Geneigtheit zur Mache, zum flotten und unbekümmerten

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    Arrangement, zur Schauspielerei der Ideale und des Bekennens, als
    ein Beweis der Echtheit und Wahrhaftigkeit eines Werkes und eines
    Menschen gelten. Man kann sie allgemach als das einzig untrügliche
    Symptom einer künstlerischen Veranlagung betrachten. Es scheint
    bei der zunehmenden Brutalisierung immer weniger möglich, daß
    jemand ein notwendiger, ein vollstreckender Künstler sei und doch
    gesellschaftlich noch funktioniere. Man kann es auch wirklich nicht
    länger für einen Zufall nehmen, daß Geister wie Nietzsche,
    Strindberg, van Gogh, Dostojewski, der eine mehr, der andere
    weniger, der Neurose verfielen. Man kann ihre Leiden nicht länger für
    »organisch« halten, wenn es auch einer bequemen Psychiatrie so
    beliebt. Man wird endlich einsehen müssen, daß es Leiden sind, an
    denen
    unsere
    religiösen
    und
    sozialen
    Faktoren,
    unser
    Erziehungswesen, unser Hochschulbetrieb, insbesondere die
    allgemeine negative Einstellung zu Wahn und Übertreibung, der
    Mangel an Enthusiasmus und Entgegenkommen, an Kindsköpfigkeit
    und Bildervergnügen, kurz unsere katastrophale Weltanschauung ein
    übervolles Maß der Schuld tragen.
    Es ist dabei bezeichnend, daß die derart leidenden Genies besonders
    aus den nördlichen Ländern kommen. Bei den Romanen findet sich
    das Phänomen viel seltener oder gar nicht; auch das Klima mag eine
    Rolle spielen. Den neurotischen Künstler bezeichnet das Wort
    Innerlichkeit, und dieses Wort weist auf die protestantische Reform
    zurück. Die Introversion, das heißt eine persönliche, private,
    autonome Mystik, die keine Anknüpfung an die Gesellschaft
    ermöglicht, ja die im Gegensatze zu den traditionellen Sitten steht –,
    die Selbstversunkenheit ist das Signum des romantischen Künstlers,
    des Abseitigen und Ausgestoßenen, des Entwurzelten und Isolierten,
    der sich durch überwertige Leistungen, durch seinen Zauber, durch
    eine rebellische Betonung der Natur und der persönlichen Gnade, der
    sich durch eine Mechanik individueller Überlegenheit im
    Gleichgewicht erhalten muß.
    Vielleicht ist Don Juan der Prototyp dieses Künstlers und
    Künstlergeschlechts: Don Juan als der Verführer und Bezauberer, als
    der Wortkünstler und Schmeichler, der die schönsten Sätze und
    Komplimente zu ründen weiß; als der Rhetor, der die
    unwiderstehlichste Skala der einlullenden Töne hat; als der

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    Rattenfänger und selber Unverbindliche, der kein Gesetz anerkennt,
    der den Bürger aufbringt, der die Mänaden im Gefolge hat. Don Juan
    als Nachfahr der Orpheus und Klingsor, der großen Meister der
    Klänge und Instrumente, der Betörer von Mensch und Tier. Ist nicht
    die Liebe Don Juans Wort? Und ist es nicht die mit aller himmlischen
    Inbrunst irdisch verstandene Liebe, der er dient? Leidet er nicht an
    der Mutter, wenn er in jeder Frau vergeblich die eine, die einzige
    suchen muß, die er nicht findet?
    Wie dem auch sei: die Romantik, die den widersprechenden Künstler
    pflegte, den Unheimlichen und Fremden, den Künstler der Maske und
    der Burleske, den Künstler der Leidenschaften und der Exzesse, der
    Übertreibung und Selbstironie; den Ideologen der Sinne, dessen
    Namen man nicht erfragen darf; den ewig Unfaßbaren, den Dandy
    und Proteus, den chevaleresken Dämon –: die ganze Romantik ist
    heute lebendiger als je, und in Deutschland besonders. Nach dem
    Zerfall der staatlichen Gewalten beginnt ein summarisches
    Wiedererwachen und Wiedererwägen, das noch lange nicht
    abgeschlossen ist. Und so ist es einstweilen noch lange nicht
    entschieden, wie die Romantik zu bewerten sei. Aus der
    französischen Spätromantik gingen Geister hervor wie Bloy, Péguy,
    Suarès, Claudel. In Deutschland schien der Romantik durch
    Nietzsche ein gewaltsames Ende bereitet. Der moderne
    Orientalismus aber, die Psychoanalyse mit ihrer Betonung der
    natürlichen Urbilder, die Bachofen-Studien und vieles andere mehr
    lassen die Romantik heute schon wieder in neuem Lichte erblicken.
    Unter solchen Umständen könnte ein Geist, der am Erbe der
    Romantik nicht nur festhält, sondern dieses Erbe darlebt –, unter
    solchen Umständen könnte der »letzte Romantiker« eine Mission von
    eminenter Wichtigkeit empfinden: die Mission nämlich, dieses Erbe
    bis zum letzten
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