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Herbstfeuer

Herbstfeuer

Titel: Herbstfeuer
Autoren: Lisa Kleypas
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gewissen Verhaltensweisen, die in jeder Gegend der zivilisierten Welt störend wirken würden.“
    Gewisse Verhaltensweisen? Nun wird es interessant, dachte Olivia. Sie ging in das Arbeitszimmer hinein, einen Raum, den sie eigentlich nicht mochte, weil er sie so sehr an ihren verstorbenen Vater erinnerte.
    Keine Erinnerung an den achten Earl of Westcliff war angenehm. Ihr Vater war ein liebloser und grausamer Mensch gewesen, der einem die Luft zum Atmen zu rauben schien, sobald er einen Raum betrat. Alles und jeder in seinem Leben hatte den Earl enttäuscht. Von seinen drei Kindern kam nur Marcus den Vorstellungen nahe, die er sich von seinen Kindern gemacht hatte, denn welche Strafen der Earl sich auch ausdachte, wie unmöglich seine Forderungen gewesen waren und wie ungerecht sein Urteil ausgefallen sein mochte – Marcus hatte sich nie beklagt.
    Livia und ihre Schwester Aline hatten nur gestaunt über ihren älteren Bruder, dessen ständiges Streben ihm die besten Noten in der Schule eingebracht hatte, ihn alle Rekorde im Sport brechen ließ und ihn sich selbst sehr viel strenger beurteilen ließ als jedermann sonst. Marcus konnte ein Pferd zureiten, die Quadrille tanzen, Mathematiktheorie unterrichten, eine Wunde verbinden und ein Kutschenrad reparieren. Doch keine seiner Fähigkeiten hatte ihm jemals ein Wort des Lobes von seinem Vater eingebracht.
    Rückblickend begriff Livia, dass es die Absicht des alten Earls gewesen sein musste, seinem einzigen Sohn jede Spur von Weichheit und jedes Mitgefühl auszutreiben. Und eine Weile hatte es so ausgesehen, als wäre es ihm gelungen. Doch beim Tod des alten Earls vor fünf Jahren hatte sich gezeigt, dass Marcus ganz anders war als der Mann, zu dem man ihn erzogen hatte. Livia und Aline hatten festgestellt, dass ihr älterer Bruder nie zu beschäftigt war, um ihnen zuzuhören, und wie unwichtig ihre Probleme auch immer zu sein schienen – er war stets bereit, ihnen zu helfen. Er war mitfühlend, liebenswert und voller Verständnis – was einem Wunder gleichkam, denn die meiste Zeit seines Lebens hatte er diese Eigenschaften nicht erfahren.
    Darüber hinaus allerdings war Marcus auch ein wenig bestimmend – nein, sehr bestimmend. Soweit es diejenigen betraf, die er liebte, scheute er zu keiner Zeit davor zurück, sie in die Richtung zu drängen, die er für die beste hielt. Dies gehörte zu seinen weniger charmanten Eigenschaften. Und wenn Livia schon einmal an seine Fehler dachte, so musste sie einräumen, dass er dem lästigen Glauben anhing, sich für unfehlbar zu halten.
    Während sie ihren charismatischen Bruder anlächelte, fragte sich Livia, warum sie ihn so sehr liebte, wenn er doch äußerlich so sehr ihrem Vater glich. Marcus besaß die gleichen scharfen Züge, die breite Stirn und den schmallippigen Mund. Diese Kombination wirkte attraktiv, ohne eigentlich schön zu sein – und doch war es ein Gesicht, das mühelos weibliche Blicke auf sich zog. Anders als bei seinem Vater schienen Marcus’ Augen häufig zu lachen, und gelegentlich zeigte sich ein strahlendes Lächeln auf seinen Zügen.
    Während Livia näher kam, lehnte Marcus sich in seinem Stuhl zurück, faltete die Hände und ließ sie auf seinem festen Bauch ruhen. Als Zugeständnis an diesen ungewöhnlich warmen Septembernachmittag hatte er den Überrock abgelegt und die Ärmel seines Hemdes aufgerollt, sodass seine muskulösen Unterarme mit dem leichten Hauch von dunklen Haaren sichtbar wurden. Er war von durchschnittlicher Größe und in guter Form, mit dem muskulösen Körperbau des trainierten Sportlers.
    In ihrem Eifer, mehr zu hören über das zuvor erwähnte Benehmen der schlecht erzogenen Miss Bowman, beugte Livia sich über die Tischkante und sah Marcus an. „Ich frage mich, was Miss Bowman getan hat, um dich zu kränken“, überlegte sie laut. „Erzähl es mir, Marcus. Wenn du es nicht tust, werde ich mir gewiss etwas viel Skandalöseres vorstellen, als die arme Miss Bowman jemals zu tun in der Lage wäre.“
    „Die arme Miss Bowman?“, meinte Marcus verächtlich. „Frag nicht, Livia. Ich habe nicht das Recht, darüber zu sprechen.“
    Wie die meisten Männer, so schien auch Marcus nicht zu verstehen, dass nichts die Neugier einer Frau mehr anstachelte als ein Thema, über das nicht gesprochen werden durfte. „Heraus damit, Marcus“, kommandierte sie.
    „Oder ich werde dir unvorstellbare Qualen zufügen.“
    Spöttisch zog er eine Braue hoch. „Da die Bowmans bereits
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