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Herbst

Herbst

Titel: Herbst
Autoren: Hermann Hesse
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Sonnenblitzen. Ich fuhr Buochs gegenüber am Bürgenstock hin. Jenseits glomm der See gegen das Ufer hin unzähligemal in einer seltsamen, feinen, kühlen Farbenflucht auf, ganz wie blanker Stahl im Verkühlen: rotblau, rotbraun, gelb, weiß.
    Von halber Höhe des Bürgenstocks drang Geläute von Kuhglocken herab. Die schönen, welligen Matten standen lichtgrün in den blassen Himmel und zeigten jenen unsäglichen, traurig-kühlen herbstlichen Ton, den man nie entstehen sieht und der jedes Jahr wieder in irgendeiner Stunde plötzlich da ist und uns erinnert, wie uns der Name eines lieben Toten erinnert – an den großen Wechsel, an die Unsicherheit des Grundes, auf dem wir bauen, an den Tod, an die unzähligen mühsamen Wege, die wir unnützerweise gegangen sind.
    Ich ruderte aus, um die Tönungen der Wellen im Buochser See zu betrachten, um mein Gedächtnis mit dem Bild einiger Farbenvermischungen, einiger Lichtbrechungen, einiger Silbertöne zu bereichern. Ich ruderte aus, kühl, fröhlich und elastisch, einen Reim im Ohr, einen Vers auf den Lippen, um die Schönheit auf einigen mir noch fremden Wegen, in einigen neuen Spielen zu belauschen – und endete damit, diese Herbstmatten zu finden, die erstendieses Jahres, diese unabweislichen, zarten, traurigen Boten.
    Ich wendete mich um und ließ das Auge lang auf dem bewegten, frischen Wasser ruhen, ich beobachtete in der Luft gegen Brunnen und an der Wand des Oberbauen einen einzelnen Sonnenstrahl; aber mein Gedanke verfolgte ihn nicht mit seinem rastlosen, elastischen Eindringen. Nur mein Auge sah die blaßgoldenen Reflexe zittern und verleuchten, mein Gedanke nahm nicht teil, er verweilte hinter mir, über dem steilen Walde, auf jenen bleichgrünen Matten. – Herbst!
    Und ich besann mich, ob ich auf dem rechten Wege sei, ob mein rastloser Lauf mich meinem Sterne nähere oder entführe, ob er mich jemals in geistige Höhen führen könne, in welchen dieser Herbst und diese Traurigkeit mich nicht mehr würden berühren können.
    Hier gab es in meinem Nachsinnen einen Moment, in welchem ich, hätte ich es in meiner Macht gehabt, den ganzen Schleier des äußeren Lebens von mir gelegt und alle Fäden der Lust, der Liebe, der Trauer, des Heimwehs und der Erinnerung abgeschnitten hätte. Ein Höhepunkt, ein kurzes, ruhiges Atemholen auf hohen Gipfeln: hinter mir alle Beziehungen des Menschlichen, vor mir die leichte, kühle Weite der Schönheit des Absoluten, des Unpersönlichen. Ein Augenblick – ein Atemzug!
    Die Glockenlaute schwankten herab, ich schloß die Augen und sank und sank von der Höhe. Eine schwere, körperhafte Trauer bekam Gewalt über mich. Ich wollte entrinnen, mein Gedanke bäumte sich noch einmal wie ein mißhandeltes Roß, aber ich unterlag. Und jene schwere, müde Traurigkeit überwältigte mich, beugte mich tiefer und tiefer, löschte alle Sterne aus, quälte mich und feierte alle schmachvollen Triumphe eines grausamen Siegers.
    Klar und nahe, wie durch eine plötzlich zerrissene Hülle, lag der helle Garten meiner frühesten Erinnerungen vor meinem Auge. Und meine Eltern. Und meine Knabenzeit, meine ersten Liebeszeiten, meine Jugendfreundschaften. In dieser bedrückten Stunde redeten sie alle eine so traurig-fremde, schöne Sprache, so heimwehmachend und so ernsthaft fragend wie die Züge von Toten, denen wir Tränen nicht getrocknet und Wohltaten nicht erwidert haben. Ich wies sie von mir, und sie gingen, eine tote Gegenwart hinterlassend.
    Zugleich mit dem lastenden, schwächenden Herbstgefühl stieg eine peinigende Abschiedsstimmung in mir auf. Ich sah hinter den wenigen noch freien, einsamen Ruhetagen die Stadt und das wiederbeginnende aufreibende Leben auf mich warten, die vielen Menschen, die vielen Bücher, die unzähligen Nötigungen zur Lüge, Selbstbetrug und Zeitverderb. Und plötzlich brannte meine ganze Jugendin schmerzlicher Lebenslust in mir auf, ich warf mich in die Ruder, kreuzte auf der großen Bucht umher, kehrte um den Vorsprung des Bürgenstocks zurück, bis an die Matt, bis nach Weggis. Die notwendige Ermüdung sättigte mich nicht, gierig und verzweifelnd erfüllte mich ein klaffendes Ungenügen, eine Lust, alle Freiheit und Kraft meines Lebens in eine einzige Stunde gedrängt jäh und lachend zu vergeuden. Der See war mir zu schal, die Berge zu grau, der Himmel zu niedrig. In Weggis nahm ich ein Bad und schwamm in den See hinein, drängte mich mit beiden Armen in das Wasser, tief atmend. Müde geworden legte ich mich auf
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