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Herbst

Herbst

Titel: Herbst
Autoren: Hermann Hesse
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Dresdner
neueste Nachrichten, 7. November 1928)
    // Lege deinen blonden Kopf an meine Schulter, meine arme Muse! Ich sehe wohl auf deiner schönen Stirne diese leisen, schwermütigen Linien, ich sehe wohl beim Beugen deines Halses diese müde, kranke Bewegung, und ich vermag auch wohl in dem feinen, feinen Aderspiel deiner klaren, weißen Schläfe zu lesen.
    Komm, weine nur! Das ist Herbst, das ist die letzte zitternde Mahnung der unaufhaltsamen Jugendflucht. Du kannst sie auch in meinen Augen lesen, auch auf meiner Stirn und auf meinen Händen steht sie geschrieben, tiefer als auf deinen, und auch in mir ruft dieses reinigende, schluchzende Wehgefühl: es ist zu früh, es ist zu früh!
    Komm, weine nur! Wir sind noch nicht am Ende, wenn wir noch weiter weinen können. Wir wollen diese Tränen
    und diese Trauer mit aller eifersüchtigen Sorge unserer Liebe bewachen. Vielleicht steht hinter diesen Tränen unser Kleinod, unsere Poesie, unser großes Lied, auf das wir warten.
    (Aus: »Hinterlassene Schriften und Gedichte von
Hermann Lauscher«, 1900)



/ NOVEMBER /
    (1921)
    Alles will sich nun verhüllen und entfärben,
Nebeltage brüten Angst und Sorgen,
Nach der Nacht voll Sturm klirrt Eis am Morgen,
Abschied weint, die Welt ist voll von Sterben.
    Sterben lern auch du und dich ergeben,
Sterbenkönnen ist ein heiliges Wissen.
Sei bereit zum Tod – und hingerissen
Wirst du eingehn zu erhöhtem Leben!
    // Herbstlich ist jeder Rückblick, auf eigenes oder auf fremdes Leben, herbstlich ist alle Geschichte, herbstlich alle Hingabe an die Erinnerung.
    (Aus: »Herbstliche Erlebnisse«, 1952)
/ DER BLÜTENZWEIG /
    Immer hin und wider
Strebt der Blütenzweig im Winde,
Immer auf und nieder
Strebt mein Herz gleich einem Kinde
Zwischen hellen, dunklen Tagen,
Zwischen Wollen und Entsagen.
    Bis die Blüten sind verweht
Und der Zweig in Früchten steht,
Bis das Herz, der Kindheit satt,
Seine Ruhe hat
Und bekennt: voll Lust und nicht vergebens
War das unruhvolle Spiel des Lebens.
    // Er erhob sich, ging zum Fenster und blickte nach oben, wo zwischen wehenden Wolken überall Streifen eines tiefklaren Nachthimmels zu sehen waren, voll von Sternen. Da er nicht sofort zurückkehrte, stand auch der Gast auf und trat zu ihm ans Fenster. Der Magister stand, nach oben blickend und mit rhythmischen Atemzügen die dünnkühle Luft der Herbstnacht genießend. Er wies mit der Hand zum Himmel.
    »Sieh«, sagte er, »diese Wolkenlandschaft mit ihrenHimmelsstreifen! Beim ersten Blick möchte man meinen, die Tiefe sei dort, wo es am dunkelsten ist, aber gleich nimmt man wahr, daß dieses Dunkle und Weiche nur die Wolken sind und daß der Weltraum mit seiner Tiefe erst an den Rändern und Fjorden dieser Wolkengebirge beginnt und ins Unendliche sinkt, darin die Sterne stehen, feierlich und für uns Menschen höchste Sinnbilder der Klarheit und Ordnung. Nicht dort ist die Tiefe der Welt und ihrer Geheimnisse, wo die Wolken und die Schwärze sind, die Tiefe ist im Klaren und Heiteren. Wenn ich dich bitten darf: blicke vor dem Schlafengehen noch eine Weile in diese Buchten und Meerengen mit den vielen Sternen und weise die Gedanken oder Träume nicht ab, die dir dabei etwa kommen. […] Der Blick in den Sternenhimmel und ein Ohr voll Musik vor dem Zubettgehen, das ist besser als alle deine Schlafmittel.«
    (Aus: »Das Glasperlenspiel«, 1943)
/ IM NEBEL /
    Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
    Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
    Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
    Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

/ QUELLENANGABEN /
    Die Textauszüge wurden der Ausgabe Hermann Hesse, Sämtliche Werke in zwanzig Bänden und einem Registerband , herausgegeben von Volker Michels, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000-2007, entnommen.

Kurt Tucholsky hat über Hermann Hesses Naturdarstellungen geschrieben: »Er kann, was nur wenige können. Er kann einen Sommerabend und ein erfrischendes Schwimmbad […] nicht nur schildern – das wäre nicht schwer. Aber er kann machen, daß es uns heiß und kühl und müde ums Herz wird.«

    Hermann Hesses Beziehung zur Natur und dem Lauf der Jahreszeiten ist von jeher ein inniges. In vielen Gedichten und Betrachtungen, aber auch in seinen Romanen
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