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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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zweite Runde Freibier, und es gab keine Raufereien. Niemand wollte die Stimme erheben, und nur ein paar Unverbesserliche murmelten, dass Heidrun im Jahr darauf endlich an der Reihe wäre. Selbst als Jens Jensen behauptete, dass der alte Frick Wasser in sein Bier schütte, lachten die Leute nur.
    Der einzige Mensch in Hemmersmoor, der noch oft von unserem Erntedankfest sprach, war meine Mutter. Kein Gewinner war im Butterkuchenwettbewerb auserkoren worden, und die Preisrichter, die zugaben, dass ihre schwarzen Zungen nicht in der Lage waren, eine gerechte Entscheidung zu fällen, weigerten sich, einen ersten Preis zu verleihen. Mein Vater begrüßte das Ergebnis. Er liebte Gebäck und wollte keine Feindseligkeiten zwischen ihm und dem Bäcker aufkommen lassen. Meine Mutter war jedoch untröstlich.
    Als Anke und Linde mich am folgenden Nachmittag auf dem Nachhauseweg ansprachen und fragten, ob ich mit ihnen spielen würde, sagte ich so laut, dass es Alex und die anderen Jungen hinter mir hören konnten: »Ich spiel nicht mit Mädchen. Ich bin doch nicht blöd.«

CHRISTIAN
    In dem Herbst als Helga Vierksens Haus niederbrannte, war ich sieben Jahre alt. Sie und ihre fünf Kinder wurden auf dem Marktplatz erschlagen, und ihre Gebeine – was noch übrig war von ihnen – wurden in einer Ecke des Friedhofes begraben. Der Friedhof war ein karger, windiger Ort, von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Manche Nacht schlichen wir uns vorsichtig heran und schauten zu, wie kleine Flammen über die Gräber huschten.
    In jenem Herbst hätte ich eingeschult werden sollen, aber meine Eltern legten meinen Fall den Behörden vor, und es wurde vereinbart, dass ich ein weiteres Jahr in ihrer Obhut bleiben dürfte. Mir war nicht klar, was meine Eltern sich von diesem weiteren Jahr erhofften. Ich hatte jedenfalls jede Menge Zeit, weil Alex und Martin, meine beiden besten Freunde, nun Lesen, Rechnen und Erdkunde lernten.
    Oft lief ich zum Ufer der Droste oder zu Brümmers Maschinenfabrik. Es war ein niedriger, blaßgelb gestrichener Bau mit einem großen Schiebetor. Ein Bahngleis endete hier, und nachmittags saß ich im Gras und wartete darauf, dass sich die schwarze Dampflokomotive zeigen würde. Etwas anderes trieb mich an sonnigen Tagen zu Brümmers Fabrik hinaus. Aus unbekannten Gründen war ein Schaufenster zur Linken des Büroeingangs in die alte Halle eingelassen worden. Doch weder bot die Fabrik den Dorfbewohnern ihre Waren an, noch kamen die Leute aus Hemmersmoor zur Fabrik, um einzukaufen. Noch rätselhafter war, was hinter der Glasscheibe lag. Es war unmöglich, ins Innere des Büros zu blicken, weil eine Art Alkoven um das Fenster herumgebaut worden war, und zwei kleine Türen, die sich zum Büro hin öffneten, immer verschlossen blieben.
    Alle vier Seiten des Alkovens waren abgewinkelt und gaben uns den Eindruck, in einen kurzen Tunnel zu blicken. Otto Nubis, der Vorarbeiter, stellte hier seine Marionetten aus, jeweils drei oder vier. Die hölzernen Menschen auf der anderen Seite des Glases waren weder bunt noch hübsch anzusehen. Ihre Kleider waren schäbig, verfärbt, ihre Gesichter rauh und ernst und einschüchternder als die Bilder der gefolterten Heiligen in unserer Kirche. Ich fürchtete mich vor ihnen und konnte nicht umhin, sie jede Woche erneut anzugaffen.
    Die Eintönigkeit meiner Tage wurde erst zwei Monate später unterbrochen. Jeden März und Oktober kam ein Jahrmarkt nach Hemmersmoor und schlug seine Zelte auf dem sandigen Dorfplatz neben Fricks Krug auf. Wir träumten von Astro-Raketen, dem galaktischen Feuertunnel und dem Schloss der Schrecken, aber wir bekamen nur unansehnliche Karussellpferde und Schießbuden, deren Luftgewehre rostig und verbogen waren. Niemand gewann je einen der fünf riesigen Bären, die über den Köpfen derjenigen hingen, die bereit waren zu zahlen.
    Während Alex und Martin in der Schule saßen, schaute ich den Schaustellern dabei zu, wie sie ihre Buden aufbauten. Ich erkannte die Süßwarenverkäufer und das Spiegellabyrinth, und ich bummelte an den Männern und Frauen vorbei, die noch weniger Zähne und Finger hatten als der ärmste Torfstecher im Dorf.
    Eine Attraktion war mir unbekannt. Das weiß-rote Zelt lag hinter den Schiffsschaukeln, und ein dürrer Mann, der alt sein musste, aber so gar nicht wie meine Eltern aussah, stand davor und brachte ein großes Schild an: »Ricos Reise durch die Hölle«. Ich rührte mich nicht von der Stelle und gaffte.
    »Was ist das?«, fragte
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