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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Eingang verschlossen, aber nach meinem dritten Ruf erschien Rico aus der Dunkelheit und lächelte. »Von diesen hier war keine Rede.« Er deutete auf meine Freunde. »Fürchtest du dich?«
    »Ich habe keine Angst«, sagte ich. »Ich will die Seelen sehen.«
    »Sicher willst du die sehen«, antwortete er. »Aber du musst dir deine Reise durch die Hölle erst verdienen.«
    »Wie denn?«, sagte Alex.
    »Du nicht«, sagte Rico. »Nur dieser eine hier.«
    »Das ist nicht gerecht«, sagte Alex. »Ich will auch die Hölle sehen.«
    »Du hast nichts, was mir gefällt«, sagte Rico. Seine Augen öffneten sich weit, die Pupillen waren grellweiß, Alex wich zurück.
    »Was willst du von mir?«, fragte ich.
    Rico war groß, größer als mein Vater, größer als Jens Jensen. Er war auch dünner als irgendwer in Hemmersmoor. Er trug noch immer seinen braunen Anzug, und es war mir, als könnte ich unter dem braunen Stoff seine Knochen klappern hören.
    »Das geht nur uns zwei etwas an«, sagte er.
    »Wir wollen es aber wissen«, beharrte Martin.
    Rico sah ihn eine Sekunde lang an, dann zog er sich mit einer eleganten Verbeugung den rechten Schuh aus. Alex und Martin rannten davon. Sie ließen mich vor »Ricos Reise durch die Hölle« im Stich. Es roch nach Schwefel, und Ricos Augen beruhigten sich erst nach einigen Minuten. Dann zog er sich den Schuh wieder an, um seinen Huf zu verbergen.
    »Du rennst nicht weg?«, fragte er mich.
    »Ich will die Hölle sehen.«
    »Ich verspreche, sie dir zu zeigen. Aber zuerst musst du mir die Seele deiner jüngeren Schwester bringen.«
    »Wie mache ich das?«
    Rico beugte sich zu mir herab und legte ein Glasfläschchen in meine Hand. »Du stiehlst dich ins Zimmer deiner Schwester und setzt dich auf ihr Bett. Du sprichst die Worte, die ich dir vorsagen werde, und wenn ihre Seele auf ihren Lippen erscheint, wirst du sie für mich einfangen.« Er brachte seine Lippen ganz nah an mein Ohr und flüsterte mir die neun Wörter zu, die es brauchte, um Ingrids Seele zu rufen.
    »Warum wolltest du die Seelen von Martins und Alex’ Schwestern nicht haben?«, sagte ich, bevor ich ging. »Alex’ Schwester Anna hat schon Brüste.«
    »Sie sind grob, ihre Seelen geben kein Licht. Deine Schwester – mit ihr ist das anders. Die Seele deiner Schwester wird leuchten.«
    »Junger Mann«, rief Rico mich zurück.
    »Ja?«
    »Du musst ihre Seele morgen Nacht einfangen. Wir werden uns hier treffen, und du sollst die Hölle sehen.«
    *
    Ich stellte mich am nächsten Tag krank und blieb in meinem Zimmer. Am Nachmittag kam Alex zu Besuch. »Was wollte Rico?«, fragte er. Ich konnte es ihm ansehen, dass er sich schämte, davongelaufen zu sein, aber seine Neugierde hatte die Oberhand gewonnen.
    »Wo ist Martin?«, fragte ich ihn.
    »Ist bei Anke und spielt mit ihr und Linde Puppen«, schnaubte er verächtlich. »So ein Feigling. Der ist selbst ein Mädchen.« Er schnaubte noch einmal. »Also, was wollte Rico?«
    »Nichts«, sagte ich.
    »Musst du ihm deine Seele verkaufen?«, sagte Alex.
    »Nein.«
    »Er ist der Teufel, hab ich recht?«
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Ich hab’s doch gewusst. Ich hab’s gewusst. Heute Morgen hat der alte Fitschen zwei seiner Hähne tot aufgefunden. Die waren ganz schwarz, innen und außen, und er sagte, dass das ein Zeichen sei.«
    »Natürlich«, sagte ich ein zweites Mal.
    »Und Jens Jensen wurde in der Frühe bewusstlos in einem Graben gefunden. Er behauptet, dass er mit dem Teufel gekämpft hat, weil der ihn holen wollte.«
    »Natürlich«, wiederholte ich.
    »Sie versuchen Ricos Zelt zu schließen, aber ein paar sagen, dass sie es nicht mit dem Teufel aufnehmen und ihn nicht anrühren wollen.«
    »Sie werden ihm nichts anhaben.«
    *
    Ricos Zelt blieb offen und jeder kam, um sich die Wunder der Hölle anzuschauen. Ich hingegen wartete, bis meine Schwestern zu Bett gegangen waren. Um elf stand ich an Ingrids Seite. Vorsichtig beugte ich mich über sie und lauschte auf ihre Atemzüge. Ihre Augenlider flatterten von Zeit zu Zeit. Ich nahm den Wäschesack meiner Mutter und zog ihn langsam über Ingrids Gesicht. Dann tastete ich nach ihrer Nase und ihrem Mund und hielt beide zu. Ingrid erwachte mit einem Ruck und erstarrte für einen Moment. Dann schlug sie um sich. Ihre Beine zappelten, traten aus. Ihre Finger krallten sich mir ins Gesicht und kratzten mir die Wangen wund. Sie riss an meinem Haar und hieb auf meine Nase ein. Sie bog und wand sich, aber ich setzte mich auf ihre Brust und
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