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Heldenzorn: Roman (German Edition)

Heldenzorn: Roman (German Edition)

Titel: Heldenzorn: Roman (German Edition)
Autoren: Jonas Wolf
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zu sehen.
    Scheschoka, dessen Gang von zu viel Stutenmilch zeugte, sah sich blinzelnd um, um danach auf den Eingang eines der Zelte der Fremden zuzuschwanken. Aus der Metallschale auf der Spitze des Zelts züngelte eine einzige Flamme, die so hell war, dass sie alles ringsum in ein giftiges grünes Licht tauchte.
    »Die Sterne!«, rief da einer der Ältesten mit einem nackten Grauen in der Stimme, das Tamni einen kalten Schauder bereitete. »Die Sterne!«
    Schatten huschten über das Firmament, hoch droben, wo sie kein Pfeil je hätte erreichen können. Tamni musste an die Silhouetten von Raubvögeln denken, die aus sicherer Höhe nach Beute Ausschau hielten. Doch sie kannte keinen Raubvogel, der nachts auf die Jagd ging. Von den Schatten fielen plötzlich kleine, grelle Lichter herab, die größer und größer wurden, je näher sie dem Erdboden kamen. Ein schrecklicher Verdacht schnürte Tamni die Kehle zu: Hatten die Fremden mit ihrem Donner und ihren Blitzen am Ende gar böse Geister beschworen? Nun erkannte sie, dass die Lichter, die die Schatten aussandten, keine Lichter waren: Es regnete feurige Kugeln vom Himmel.
    Zwei oder drei von ihnen schlugen unmittelbar zwischen den Pferden ein, die die Kinder der Weite am Rande des Lagers für die Nacht zusammengetrieben hatten. Ihr ängstliches Wiehern bewahrte die Tiere nicht davor, von den lodernden Wogen getroffen zu werden, in die die Feuerkugeln sich beim Aufprall verwandelten. Die Flammen hafteten an ihnen, und die Pferde sprengten auseinander, trugen den Lichtschein, den ihr eigenes Fell und ihr eigenes Fleisch nährte, in die Nacht hinaus.
    Binnen eines Wimpernschlags herrschte haltloses Chaos im Lager. Manche warfen sich zu Boden und flehten die Geister um Vergebung an, andere rannten los, um ihre Waffen zu holen. Wakijela riss sich von Tamni los und hetzte auf das Zelt zu, in dem die Kleinen schliefen. Sie kam nicht weit. Eine Feuerkugel platzte am Boden, und wo sie eben noch gewesen war, fauchten nun die Flammen.
    »Nein!«, schrie Tamni auf, machte einen Schritt auf die Feuersbrunst zu, deren Hitze ihr das Gesicht versengte. »Nein!«
    Sie taumelte zurück, stolperte über ihre Beine und ging zu Boden. Droben am Himmel zogen die todbringenden Schatten ihre Kreise. Tamni kämpfte sich hoch, suchte inmitten des Durcheinanders nach etwas, woran sie ihren Blick heften konnte, und fand das Zelt, in dem die Fremden verschwunden sein mussten. Scheschoka stand davor, Unglauben im Gesicht, eine Hand am Hals. Zwischen seinen Fingern sprudelte Blut hervor. Gopatanka sprang zu ihm, die Arme helfend ausgestreckt, da brach der Schamane schon zusammen. Das Ende eines kurzen, dicken Pfeils ragte ihm aus der Schläfe.
    Tamni kämpfte sich hoch und sah, wie die Harten Menschen aus dem Zelt liefen. Ihre Klingen glänzten und ihre Panzer klirrten, als sie über die kopflosen Kinder der Weite herfielen wie tollwütige Hunde. Sie spalteten Schädel, trennten Gliedmaßen ab, trieben Stahl durch Leiber. Tamni legte eine Hand schützend auf ihren Bauch, wandte sich von dem Gemetzel ab und lief davon. Stumm bat sie ihre Sippe um Verzeihung.
    Als eine Hand sie an der Schulter packte und herumwirbelte, hoffte sie noch, es könnte Mado sein, der sie in all dem Durcheinander gefunden hatte und vor den verräterischen Fremden beschützen würde. Doch der Mann, der sie eingeholt hatte, besaß zwar das schwarze Haar und eine ähnliche Statur wie ihr Gefährte, aber die Keule, die er zum Schlag hob, war aus Metall, ebenso wie der Ring um seinen Hals.
    »Ich trage ein Kind in mir«, sagte sie, als er einen Augenblick zögerte und sie mit einem Ausdruck musterte, der ihr wie Bedauern erschien. »Ein Kind.«
    Das Flackern des überall um sie herum wütenden Feuers färbte seine Augen rot. Die Keule fuhr herab.
    Drei Tage nach dem Massaker suchte Pukemasu den Ort auf, an dem die Kinder der Weite ausgelöscht worden waren. Ein Späher ihrer Sippe hatte das Feld aus niedergebrannten Zelten und verkohlten Leichen noch in der gleichen Nacht entdeckt, in der die fremden Lichtgeister zwischen den Sternen getanzt hatten. Doch dann hatte der Himmel zu weinen begonnen und der Wind hatte gezürnt, und Pukemasu achtete den Willen der Geister. Das war die Aufgabe, der sie ihr ganzes Leben nachgegangen war: die Zeichen zu deuten und auszulegen, die die unsichtbaren Herrscher der Welt ihren Bewohnern sandten. Selten war ihre Absicht klarer gewesen. »Haltet euch fern«, sagten sie, und so hatte Pukemasu sich
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