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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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war Dr. Müllermann-Ohfe, der schließlich in der Mansarde stand, in seinem kognakfarbenen Jackett, das Detlef-Täschchen am Daumen, mit gepunkteter Fliege statt Krawatte, und Matthias mußte sich notgedrungen aus seinen Decken schälen.

    «So gut möchte ich’s auch mal haben», sagte der Museumspfleger und sah zu, wie Matthias in seine Hosen stieg. Mittagsschlaf halten, das könne er sich gar nicht leisten bei der vielen Arbeit. Er sei nur eben mal auf einen Sprung gekommen, weil er wissen wollte, wie die«Deichsel»hier in Klein-Wense auf plattdeutsch genannt wird, bezeichnet wird oder einfach heißt. Deissel, Dissel oder Deuxel? Und der Splint, mit dem die Deichsel an der Vorderachse des Ackerwagens festgemacht wird?«Disselplinter»vielleicht oder gar«Schneusel»? Er habe hier eine Liste von Geräten des täglichen Gebrauchs, deren plattdeutsche Bezeichnung es in moderne Zeiten hinüberzuretten gelte. Kaum zu glauben, daß sie von Dorf zu Dorf wechselten! Jedes Dorf habe seine eigne Sprache, wie die Bantus in Afrika, von denen es 360 verschiedene Dialekte gäbe, die könnten sich untereinander gar nicht verstehen!

    Nun, das war eine längere Sache, nicht abzumachen hier oben in der je eigenen Behaustheit seiner Dachkammer, die zwar sauber war, aber eben doch sehr einfach.
    Es war Matthias unbekannt, daß die Bantus in Afrika sich untereinander nicht verständigen können, das stand in seinen Reisebüchern nicht drin, aber er hatte auch keine Ahnung von Plattdeutsch, er wußte nur, daß«Kuchen»in Klein-Wense«Kauken»hieß, in Sassenholz hingegen«Koken», aber das half dem Museumsmann ja auch nicht weiter. Während er sich noch das Hemd zuknöpfte und die Decke glattstrich, inspizierte der Akademiker das Stübchen, hob auch wohl ein Buch auf, das Matthias auf den Boden gelegt hatte -«Ah! ? – So etwas lesen Sie?»Ein Dorfschulmeister, der Bücher liest – so was war ihm noch nicht vorgekommen. – Matthias war befremdet. Ja, was dachte der Mann denn eigentlich von ihm? Hielt er ihn für einen Hinterwäldler? Müllermann sah sich um: Die Kartons mit Auswandererkorrespondenzen in der Ecke, von einer Schülerin beim Lehrer abgeliefert – so etwas hier oben auf dem Dachboden abgestellt? War das nicht ein Risiko? Aber was hatte sich nicht schon alles auf Dachböden angefunden. Wahrscheinlich hatten diese Briefe bereits hundert Jahre auf einem Dachboden gelegen. Eigentlich gehörten sie ja in ein Archiv. Wäre das nicht was für die Vierteljahresschrift«De Sood», die der Lehrer Straatmann in Eistedt herausgibt? Die hier aufgestapelten altertümlichen Lehrmittelkästen fand er kurios. Mit so was ein Schulmuseum ausstatten, das wäre doch eine feine Sache.

    Dr. Müllermann-Ohfe öffnete die angelehnte Tür zum Wolkenzimmer:«Ach! Hier haben Sie ja noch ein Stübchen – aber leer?»- Ob ihn das nicht beunruhige? Greife nicht der Horror vacui nach ihm? Nein?
    Matthias sagte, das sei sein Wolkenzimmer, von dort aus beobachte er die Wolken, die gäb’s gratis, und dann zeichne er die Wolken mit den Händen nach, das sei seine Gymnastik.
    «Ein rechtes Wolkenkuckucksheim!»sagte Müllermann und fummelte an dem Uhrwerk der Schuluhr herum:«Warum lassen Sie das Ding nicht mal wieder in Gang bringen?»Ob ihn muselmanische Lethargie ergriffen habe?

    Matthias führte seinen Gast hinunter in die Veranda. An das Tellerbord stellte sich der Herr, die Hände auf dem Rücken, alles ganz hübsch… Dänisches war, wie er sah, nicht darunter.
    Die Truhe der Jungfer Lucie interessierte ihn nicht weiter, von so was hatte er in Kreuzthal einen ganzen Speicher voll, mit dem Stirb-und-werde-Stuhl war das schon was anderes, an dessen Schnitzwerk fuhr er mit dem Zeigefinger mehrmals entlang. Und der Kallroy – wacker, wacker! – Aber dann ging er in den Salon hinüber, und dort kriegte er doch große Augen.«Oh, was für schöne Möbel? Sind die noch von drüben?»
    «Wo haben Sie denn die her?»sagte er und deutete auf die Scherenschnitte an der Wand.«Das ist doch der Baron? Duzfreund des Grafen Stolberg und Pate des ersten Sohnes von, Sie wissen schon, Voß, diesem unleidigen Übersetzer der Odyssee? Ein Vetter des Grafen Rantzau? Nun? Wie? Was?»
    Trat näher, schnupperte daran:«Echt! Sogar die Rahmung, alles echt?!»
    Als er dann aber freimütig sagte, daß er ohne weiteres pro Stück hundert Mark hergeben würde, mußte Matthias denn doch herzlich
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