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Heike Eva Schmidt

Heike Eva Schmidt

Titel: Heike Eva Schmidt
Autoren: Purpurmond
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der Erste Weltkrieg dem Boom ein Ende bereitete. Wieder stand das Gebäude leer und verfiel. Dennoch überstand es auch den Zweiten Weltkrieg und wurde danach halbherzig renoviert und aufgebaut. Nur das Kellergewölbe war noch aus dem Jahr 1626. Doch so recht wusste keiner etwas mit dem Gemäuer anzufangen, und nur der Denkmalschutz konnte einen Abriss verhindern.
    An diesem Punkt hatte das Referat geendet.
    Dass heute in dem ehemaligen Drudenhaus wilde, unerlaubte Partys stiegen, war nicht erwähnt worden. Das wusste sowieso jeder. Sogar ich, obwohl ich nie dazu eingeladen worden war. Bis heute.
    Ausgetretene, brüchige Steinstufen führten zu dem Verlies hinunter. Auf jeder brannte ein rotes Friedhofslicht. Irgendein Song der Nine Inch Nails schallte durch den düsteren Gang. Die wimmernde Stimme des Sängers prallte gegen die dicken Mauersteine, Melodiefetzen wanden sich wie Schlangen durch das schneckenhausförmige Gewölbe.
    Langsam, um nicht auf den feuchtmodrigen Stufen auszurutschen, tastete ich mich Schritt für Schritt nach unten. Dort hockten sie auf Bierkästen im Kreis, wie ein moderner Hexenzirkel: Sinas »Hofstaat«, sechs Mädchen aus meiner Klasse. Und natürlich hatte Sina den knalligsten Lippenstift und ließ gerade eine Sektpulle kreisen.
    »Da ist sie ja«, schrie sie übermütig, als ich zögernd stehen blieb. Die massive Holztür stöhnte in ihren Angeln, wie eine Hexe auf der Streckbank.
    Bei dem Gedanken, dass wir uns an einem Ort befanden, wo vor 300 Jahren Menschen gequält und umgebracht worden waren, huschte eine Gänsehaut über meine Arme, als wäre mir eine Ratte in den Ärmel geschlüpft. Sina streckte mir die Flasche hin, und ich nahm einen kräftigen Schluck. Das Zeug schoss mir wie ein flüssiges Feuerwerk durch die Kehle, und ich musste aufpassen, dass es mir nicht zur Nase wieder rauskam. Das Gekicher der Mädchen wurde als dämonisches Echo von den klammen Wänden zurückgeworfen und hing noch sekundenlang wie ein unsichtbarer Schatten in der Luft.
    »Naaa, Cat? Jetzt wollen wir mal sehen, ob du Mumm in den Knochen hast«, sagte Sina und sah mich herausfordernd an. Ihre schwarzen Augen funkelten im Licht der Kerzen wie zwei Onyxe.
    Leute niederstarren war eine meiner Stärken, und so heftete ich meine grünbraunen Augen auf ihr Gesicht und hoffte inständig, nicht plötzlich zwinkern zu müssen.
    »Was geht ab?«, fragte ich knapp. Dieser Kleinstadtpflanze würde ich es schon zeigen.
    Sina deutete auf die Mitte des Kreises. Dort lag ein großer Plakatkarton, auf dem Buchstaben und Zahlen kreisförmig angeordnet waren und ein Feld mit der Aufschrift »JA« und »NEIN« zu sehen war. Auf dem Karton stand ein umgedrehtes Glas.
    »Ach so, Gläserrücken«, sagte ich lässig, als hätte ich diesen Hokuspokus schon gemacht, als ich meine Schultüte in der Hand gehalten hatte.
    In Wirklichkeit hatte ich erst einmal damit zu tun gehabt. Vor vier Jahren in Berlin. Damals hatte ich gemeinsam mit einer Freundin aus dem Nachbarhaus versucht, mit den Geistern von Verstorbenen in Kontakt zu treten. Unter viel Aufwand hatten wir die Buchstabentafel gemäß Anweisung hergestellt, doch nichts hatte sich getan. Das Glas war wie festgewachsen an seinem Platz geblieben und hatte sich keinen Millimeter bewegt. Erst drei Tage später hatten wir erfahren, dass man die Fingerspitzen auf den Glasboden hätte legen müssen, statt einfach nur dazusitzen und das Glas anzustarren. Da hatten wir die Tafel mit den Buchstaben aber schon in den Müll geworfen.
    »Also, was ist jetzt? Hast du Schiss, oder was?«, riss mich Sina aus meinen Gedanken.
    »Bullshit«, erwiderte ich und hoffte, meine Stimme würde überlegen klingen. Natürlich wusste ich, dass Gläserrücken totaler Humbug war. Aber hier im Drudenhaus, wo in den Mauerritzen noch die Schatten der Gefolterten lauerten und alte Spinnweben wie schmerzverzerrte Fratzen in den Ecken hingen, schien alles möglich. Sogar, dass die Geister der Hexen und Zauberer wieder lebendig würden.
    Ich sah die anderen Mädchen an. So ganz wohl schienen sie sich alle nicht in ihrer Haut zu fühlen: Rebekka wickelte ihr H&M-Shirt mit den überlangen Ärmeln enger um sich, und Mia zupfte mit fahrigen Bewegungen an ihrem Baumwollschal herum. Eve und Lola hatten sich an den Händen gefasst, und Lilli blickte starr vor sich auf den Boden. Nur Sina schien ganz in ihrem Element. Sie grinste und sah im flackernden Kerzenlicht selbst wie ein Wesen aus dem Zwischenreich aus. Mit
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