Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Autoren: Johanna Spyri
Vom Netzwerk:
sie doch so krank gewesen war in der ersten Haut! Aber gelt, Tante, du bist auch froh, daß du nun die Geschichte der Raupe so klar weißt, die ist doch sehr merkwürdig.«
    »Gewiß ist sie, Fred. Man kann auch so gut daraus sehen, daß es Dinge gibt, die wir nicht begreifen und erklären können und die doch geschehen, die auch kein einziger Gelehrter noch ergründet hat. Darum, wenn du dann einmal ein Gelehrter wirst, Fred – und das kannst du schon werden in deinem Fach, wenn du so eifrig fortfährst –, und du auf die unbegreiflichen Dinge stößest, dann sage dir nur jedesmal demütig: ›Da ist etwas, das ich nicht erklären kann, da kommt der liebe Gott!‹ Und dann bewundere seine Größe, die weit über dich hinausgeht.«
    Fred packte ganz andächtig seine eingepuppte Raupe wieder zusammen und schaute sie noch einmal lang und genau an, denn er mußte jetzt erst recht über die Verwandlung nachdenken, die sich in dem Tierchen vollzog, während es ganz tot dalag. –
    Klarissa war bei Frau Stanhope angekommen, aber ihr Erscheinen brachte der Trauernden keinen Trost; es war, als ob nur alle Erinnerungen in ihr mit erneutem Schmerz aufstiegen. Klarissa wollte so gern etwas von den letzten Tagen der Nora hören und wie sie entschlafen war; aber es war der Mutter nicht möglich, darüber zu sprechen, und Klarissa schwieg still, denn jede Frage brachte einen neuen Ausbruch des Schmerzes hervor. Sie setzte sich dann hin und schaute in das friedliche Angesicht der Nora, das für sie eine Sprache hatte, die ihr wohltat. Als sie aber am folgenden Tag hörte, daß das Kind Elsli allein bei der Nora gewesen sei, als sie entschlief, da wünschte sie sehr, das Kind zu sehen, und schickte nach ihm aus, daß es zu ihr komme. Als nun das Elsli zum ersten Male wieder in die Stube eintrat, wo es so viele glückliche Stunden mit der Nora verlebt hatte, und dort ihren leeren Sessel am Fenster stehen sah, mußte es sehr weinen. Klarissa nahm das Kind mit großer Freundlichkeit bei der Hand und setzte es neben sich hin. Dann fing sie an, von der Nora zu sprechen, und jetzt ging dem Elsli das ganze Herz auf, denn seit es von der entschlafenen Nora weggegangen war, hatte es noch kein Wort von ihr sprechen können, und doch erfüllte sie ja alle seine Gedanken. Dem Elsli verging völlig seine große Schüchternheit und es erzählte in einem Flusse fort von allen Worten der Nora, wie sie ihm von dem schönen Lande erzählt hatte, wo sie zusammen hingehen wollten, und welch schönes Lied sie immer zusammen gesagt hatten, und das Elsli sagte im vollen Zug der Erinnerungen das ganze Lied vom kristallenen Strom und den leuchtenden Blumen. Und zuletzt erzählte es, wie auf einmal ganz still die Nora allein fortgegangen sei, daß es aber auch bald gehen werde, da die Nora gewiß den lieben Gott bitte, daß Er ihm rufe. Klarissa hatte mit Rührung und Verwunderung dem Elsli zugehört. Das war ja ihr Lied, das die Nora als kleines Kindlein, auf ihren Knieen sitzend, schon erlernt hatte. Das waren ihre eigenen Worte, mit denen sie der Nora von dem Lande drüben erzählt hatte, – und, wie wunderbar! das Elsli hatte ja völlig den Ton der Stimme der Nora, es hatte die Bewegungen ihrer Hand; jedes Wort brachte der Klarissa die entschwundene Nora ganz lebendig vor Augen. Sie umfaßte das Elsli und weinte vor Leid und Freude zugleich. Dann lief sie zu Frau Stanhope hinein und rief in großer Aufregung einmal ums andere aus: »O, das ist ja unser Kind, liebe Frau Stanhope! Es ist ja die Stimme und die Worte unseres Kindes, unserer Nora! Es ist ihre Schwester, unser Kind!«
    Erst hatte Frau Stanhope sich plötzlich erhoben und aufgehorcht; als sie aber verstand, was Klarissa meinte, schüttelte sie nur traurig den Kopf und legte ihn wieder auf das Lager der Nora nieder.

    Aber die Klarissa war so erfüllt von ihrem Eindruck, daß die Teilnahmlosigkeit der Frau Stanhope sie nicht entmutigte. Sie ging hinaus und führte das Elsli herein, dem nun gleich wieder die Tränen die Wangen herabrollten, wie es die Nora so still daliegen sah. Klarissa führte es nahe zu dem weißen Lager heran und legte Elslis Hand in die der Nora. Dann sagte sie bittend zu der Mutter, die immer noch, ihr Gesicht auf den Rand des Lagers gebeugt, an dem Bette kniete: »Schauen Sie auf, Frau Stanhope, unser Kind hat Ihnen noch etwas zu sagen.« Die Mutter erhob sich. Ihr Kind hielt ihr mit ausgestrecktem Arm das Elsli entgegen. Einen Augenblick schaute sie starr auf die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher